die taz vor zehn jahren über die bagatellisierer von tschernobyl
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Es ist ein unheimlicher Schlagabtausch. Zehn Jahre danach ringen Anhänger und Gegner der Atomenergie um die Interpretationshoheit über die Folgen des Tschernobyl-Desasters. Gezählt werden die Toten, nicht aber die Millionen, die mit der Katastrophe leben müssen, bis an das Ende ihrer Tage. Wer darüber jammert, jammert zu Recht – und wird an dem traurigen Schauspiel doch nichts ändern können. Denn bei aller nervtötenden Ritualisierung der Auseinandersetzung um die toten Toten und die noch lebenden Toten – am Ausgang dieses Streits wird sich auch entscheiden, ob die Energieerzeugung mittels Kernspaltung noch eine Zukunft hat.

Was tun nach dem Ende der „Feierlichkeiten“ zum zehnten Jahrestag? Natürlich muß die Hilfe weitergehen. Natürlich muß die Untersuchung der Folgen weitergehen. Vor allem aber muß die Interpretationshoheit jenen entzogen werden, die an einer ernsthaften Erforschung dieser Jahrhundertkatastrophe keinerlei Interesse haben können. Niemand käme auf die Idee, die Folgen des Rauchens von der Tabakindustrie aufklären zu lassen. In Wien ist es aber so: Der Klub der Bagatellisierer aus dem Westen sitzt einträchtig zusammen mit den Verantwortlichen für die Katastrophe aus dem Osten. Und rühmt sich seines wissenschaftlichen Sachverstands, wie 1991, als das „Internationale Tschernobyl-Projekt“ noch jede Spätfolge der Strahlung bestritt, während in Weißrußland schon 30mal mehr Kinder an Schilddrüsenkrebs litten als vor der Katastrophe. Nach Auflösung der bipolaren Welt gibt es nicht mehr die geringste Rechtfertigung dafür, jenen das Feld der Folgenabschätzung zu überlassen, deren natürliches Interesse die Vertuschung sein muß.

Gerd Rosenkranz, 26. 4. 1996