Die Masse macht’s

Der Fotograf Heinrich Heidersberger wurde in den 1960er Jahren engagiert, um mit seinen Bildern die Stadt Wolfsburg aufzuwerten. Zum 70. Geburtstag der Stadt zeigt das örtliche Kunstmuseum eine Ausstellung mit Heidersbergers Fotos voller Boomtown-Euphorie und Autostadt-Paradoxien

Bei Heidersberger erscheint Wolfsburg als Modellstadt des jungen demokratischen Deutschlands

VON TIM ACKERMANN

Auf einer Weide haben sich Pferde um eine Tränke versammelt. Direkt an diese Idylle grenzt ein Asphaltplatz, auf dem eine Horde VW Käfer abgestellt wurde. Gedrosselte Pferdestärken, sauber in Reihe geparkt. Dahinter bauen sich im Nebel die Ausläufer einer riesigen Fabrik auf. Es ist eine surreale Szene direkt aus der Autostadt Wolfsburg.

Das Paradoxe an Wolfsburg ist wohl durch nichts besser erfasst worden als durch das beschriebene Foto von Heinrich Heidersberger aus dem Jahre 1962: Eine Stadt, direkt auf die grüne, niedersächsische Wiese gesetzt, als Sitz eines Weltkonzerns. Eine Retortenstadt im Niemandsland.

Am 1. Juni 1938 wurde die „Stadt des KdF-Wagens“ von Hitler offiziell aus der Taufe gehoben. Mittlerweile heißt sie Wolfsburg und feiert ihren 70. Geburtstag. Eine Ausstellung im örtlichen Kunstmuseum zeigt aus diesem Anlass alte Wolfsburg-Fotos, die Heinrich Heidersberger in den frühen 60er Jahren geschossen hat.

Heidersberger war 1961 auf Einladung des damaligen Oberstadtdirektors nach Wolfsburg gezogen. Im Zuge einer frühen Variante des Standortmarketings wollte man Künstler im alten Schloss ansiedeln und damit die Kommune aufwerten. Zudem hatte man bereits überlegt, einen Bildband zur Automobil-Metropole herauszugeben. Diese Aufgabe übernahm Heidersberger. Die aktuelle Ausstellung basiert auf seinem Fotobuch „Wolfsburg – Bilder einer jungen Stadt“ von 1963.

Als Außenseiter registrierte der Fotograf schnell die Gegensätze der Autostadt. Der gebürtige Ingolstädter hatte sich in jungen Jahren in Paris mit Malerei beschäftigt. Zahlreichen Fotos sieht man an, dass der Künstler sein Auge an den Werken berühmter Vorgänger geschult hatte: Eine Aufnahme der Wolfsburger Bevölkerung beim Rodeln am Stadtrand erinnert in ihrer Ländlichkeit frappierend an Winterszenen von Pieter Bruegel d.Ä.. Eine Aufsicht der vierspurigen belebten Porschestraße ruft dagegen durch die ähnliche Blickwinkelwahl die Pariser Boulevard-Impressionen von Claude Monet und Camille Pissarro ins Gedächtnis. Ein klein bisschen kosmopolitisch durfte man sich schließlich auch im Ostniedersächsischen fühlen.

Es gab auch einiges, womit sich die Stadtväter brüsten konnten: Zwischen 1945 und 1961 hatte sich die Einwohnerzahl auf fast 75.000 verfünffacht. Avantgardistische Architekten drückten der Boomtown den Stempel der Moderne auf: Alvar Aalto baute die Heilig-Geist-Kirche und das Kulturzentrum an der Porschestraße, Titus Taeschner das Rathaus. Die Volkswagen AG spendierte Hochkultur mit Karajan. Die Stadthalle zeigte Corinth. Zum Vortrag in der Volkshochschule ging man in Anzug und Schlips. „Rückkehr zum Aufbruch“ heißt nicht zufällig der Untertitel der Fotoausstellung, die das Wirtschaftswunder-Feeling der frühen Sechziger noch einmal im schönsten Schwarz-Weiß greifbar macht. Es war eine Zeit, in der man strikt nach vorn schaute.

In auffällig vielen Fotos arbeitet Heidersberger mit dem Motiv der Masse: Ein Schwarm VW-Käfer, die am Förderband durch die Werkshalle segeln oder mit dem Zug abtransportiert werden. Das Heer der Arbeiter, das über eine Treppe Richtung Arbeitsplatz stampft. Eine Flotte von Marktständen, die auf dem Rathausplatz zum uneingeschränkten Konsum einlädt. Auch auf dem Rummelplatz, im Freibad oder bei der Grundsteinlegung einer neuen Kirche drängeln sich die Menschen. Der Aufbruch in Wolfsburg, so zeigt es Heidersberger, kam aus der Mitte seiner Bevölkerung. Diese Botschaft wünschten sich wohl auch die Stadtoberen, die sich vom Fotografen als legitimierte Volksvertreter beim Disput im Rathaussaal ablichten ließen.

Bei Heidersberger erscheint Wolfsburg als Modellstadt des jungen demokratischen Deutschlands. Es ist allerdings auffällig, dass sich das Kunstmuseum in der Auswahl seiner Arbeiten eben nur auf Bilder beschränkt, die bis zum Anfang der 70er-Jahre entstanden. Einer Epoche also, die stark von Aufbruchsgedanken und Fortschrittsglauben beseelt war.

Man habe zunächst einmal Arbeiten zeigen wollen, die schon einmal publiziert wurden, heißt es. So wird der Wolfsburg-Zyklus ergänzt durch Man-Ray-inspirierte Aktaufnahmen von 1949, serielle Produktfotografien Heidersbergers und seine Rhythmogramme – mit Pendeln erzeugte Linienstrukturen aus Licht. Ausgespart sind Bilder von der weiteren Entwicklung Wolfsburgs. Bilder eines Industriestandorts in provinzieller Randlage während der ökonomisch stürmischen Phasen der Achtziger und Neunziger. Heidersberger hätte sie wohl liefern können, ist er doch erst 2006 im stolzen Alter von 100 Jahren gestorben. Er soll sogar noch das Phaeno fotografiert haben.

Mit dem Motto „Rückkehr zum Aufbruch“ gönnt sich Wolfsburg ein allzu beschauliches Geburtstagsgeschenk. Anfang der Sechziger war auch in der Autostadt der Architekturstil klar und international, die Welt heil und die Rollenverteilung klar. Von der Vier-Tage-Woche konnte noch keine Rede sein. Dafür war in allen Volks- und Mittelschulen Wolfsburgs das Kochen für Mädchen ein Pflichtfach. Ein Foto zeigt Schülerinnen beim Kuchenbacken.

Was sowohl der Fotoband als auch die Ausstellung vermissen lassen, sind Bilder der so genannten Gastarbeiter, die Wolfsburg in den letzten viereinhalb Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben. Dabei hat Heidersberger auch die ärmlichen Massenunterkünfte der ersten italienischen Migranten für die Nachwelt festgehalten. Für die merkwürdige Lücke im Wolfsburger Bilderkanon kann es also nur einen Grund geben: Ein offensichtlicher Beleg für eine Zweiklassengesellschaft passt nicht zur lokalen Mär von universellem Fortschritt und Wohlstand.

Bis 21. September. Es erscheint eine Neuauflage von Heinrich Heidersbergers Fotoband (104 Seiten, 24,90 Euro)