Ein Leben ohne Tageslicht

Niemand will bemerkt haben, dass Josef F. unter seiner Werkstatt vier Menschen eingekerkert hielt

Der Vater bat sogar die Medien, bei der Suche nach der Tochter zu helfen

AUS WIEN RALF LEONHARDT

Eine Autobahnstunde von Wien entfernt, zwischen dem hügeligen Alpenvorland und der rauen, „Mostviertel“ genannten Gegend, liegt Amstetten. Die niederösterreichische Bezirksstadt hat mehrere barocke und gotische Kirchen und konnte sich im vorletzten Jahr bereits zum dritten Mal mit dem Titel der „innovativsten Gemeinde“ Österreichs schmücken. Doch seit Sonntag ist der 23.000 Einwohner zählende Ort für etwas anderes bekannt: als Schauplatz eines beispiellosen und monströsen Kerkerdramas und als Synonym für Freiheitsberaubung, Missbrauch und mehrfachen Inzest.

Das graue, zweistöckige Gebäude mit ausgebauter Mansarde ist eines der stattlichsten Häuser in einem Stadtteil, in dem die gehobene Mittelschicht ihre Domizile inmitten üppiger Gärten errichtet hat. Am Montagvormittag ist die Straße von der Polizei abgeriegelt und wird von mehr als einem Dutzend TV-Übertragungswagen belagert. Fotografen mit dicken Teleobjektiven verfolgen die weiß gekleideten Kriminalisten, die im Haus und vor allem im unterirdischen Bunker im hinteren Teil des Gartens Spuren sichern. Dieses verborgene Verlies war fast ein Vierteljahrhundert die Welt der heute 42-jährigen Elisabeth F., einer Frau mit schlohweißem Haar, die am Samstag erstmals nach 24 Jahren wieder ans Tageslicht treten durfte.

Bei einer Pressekonferenz in Amstetten erklärte Oberst Franz Polzer, der Leiter des Landeskriminalamtes Niederösterreich, den Fall „für im Großen und Ganzen geklärt“: Demnach hat der heute 73-jährige pensionierte Ingenieur Josef F. seine Tochter wie eine Gefangene gehalten und sieben Kinder mit ihr gezeugt, die alle in dem Verlies zur Welt kamen. Nach den Angaben der Polizei hat er sein anfängliches Schweigen gebrochen und ein Geständnis abgelegt. Inzwischen wurde er dem Haftrichter am Landesgericht St. Pölten vorgeführt.

Nicht nur die Nachbarn, auch die eigene Ehefrau und die Kinder wollen nichts von dem Doppelleben gewusst haben, das der Mann führte: autoritärer, aber biederer Familienvater auf der einen Seite, Kerkermeister und pädophiler Sadist, der seine Tochter seit deren elftem Lebensjahr missbrauchte, auf der anderen Seite. Mit seiner Ehefrau hatte er insgesamt sieben Kinder, die inzwischen alle erwachsen sind.

Elisabeth F., die ihre Missbrauchserfahrungen niemandem mitzuteilen wusste, riss als Jugendliche zweimal von zu Hause aus. Das erste Mal wurde sie in Wien aufgegriffen. Nach der zweiten Flucht kettete sie der Vater im Keller an, den er schon vorher für solche Zwecke angelegt haben dürfte. Das war im August 1984. Unter Druck schrieb Elisabeth einen Abschiedsbrief, der den Schluss nahelegte, sie sei in die Fänge einer Sekte geraten. Gegenüber den Behörden zeigte sich der Vater besorgt und erstattete nicht nur Vermisstenanzeige, sondern bat auch die Medien um Hilfe bei der Suche.

Im Laufe der Neunzigerjahre tauchten auf der Schwelle des Hauses nach und nach drei Kleinkinder auf, die allem Anschein nach von der verschwundenen Mutter dort hinterlegt und mit einem Begleitbrief ausgestattet worden waren: Die Großeltern möchten sich um sie kümmern und nicht nach der Mutter suchen. Das erste der Kinder wurde adoptiert, die anderen beiden wurden in Pflege genommen. Eine Sozialarbeiterin sah regelmäßig nach dem Rechten und fand nie Anlass für Misstrauen. Während die Lehrer nie über Leistungen oder Verhalten der Kinder klagten, berichteten Schulkameraden, die drei seien besonders verschlossen gewesen. Über die Mutter hätten sie nicht gesprochen.

Von den vier weiteren Kindern, die im Bunker geboren wurden, starb ein Zwilling mangels medizinischer Versorgung schon nach wenigen Tagen. Den Leichnam will Josef F. im Heizofen verbrannt haben. Warum die übrigen, heute 19, 18 und 5 Jahre alten Kinder bei der Mutter im Verlies bleiben mussten, ist noch ein Rätsel. Ebenfalls noch nicht im Detail geklärt ist, wie Josef F. seine Gefangenen mit Nahrungsmitteln versorgen konnte.

Sicher hingegen ist, dass die vier Personen in einem fensterlosen, nur 1,70 Meter hohen unterirdischen Gefängnis hausten, das mit einem engen Sanitärbereich, einer Küche und zwei Schlafzimmern ausgestattet war. Das Verlies, das hinter einem fünf Meter langen Gang liegt, dürfte im Laufe der Jahre auf fast 60 Quadratmeter ausgebaut worden sein. Der einzige Zugang zum wirkliche Leben bestand für die Gefangenen aus einem Fernseher, einem Videogerät und einem Radio. Die Stahlbetontür, die den Weg zur Außenwelt versperrte, war hinter einer Regalwand in der Werkstatt des Hausherrn verborgen und per elektronischen Code verriegelt. Die Anlage eines kleinen Teiches und eines Schrebergartens sollen ihm als Vorwand ausgereicht haben, um sich allein und ungestört in der Werkstatt aufzuhalten.

Wenn die 19-jährige K. im Verlies nicht schwer erkrankt und am 19. April auf Druck der Mutter von Josef F. ins örtliche Krankenhaus gebracht worden wäre, hätte das Martyrium der Familie noch Jahre andauern können. Josef F. deponierte die Kranke mit einem Begleitbrief der Mutter, der die Umstände verschleiern sollte. K. leidet an einer geheimnisvollen Erbkrankheit, für deren Diagnose die Ärzte dringend nach der Mutter verlangten. Diese erfuhr in ihrem Kerker aus dem Fernsehen, dass sie der Tochter vielleicht das Leben retten könnte, und dürfte ihren Peiniger schließlich überredet haben, sie ins Krankenhaus zu lassen. Auch da tischte er seiner Frau noch ein Märchen auf und erklärte ihr, die abtrünnige Tochter sei plötzlich mit zwei Kindern wiederaufgetaucht.

Die Ärzte äußern sich zu den Genesungschancen sehr zurückhaltend. Bezirkshauptmann Heinz Lenze, der seit zwei Tagen damit beschäftigt ist, der Presse Auskunft zu geben, gleichzeitig aber die Privatsphäre der Geretteten zu schützen versucht, zeigte sich vom Tatort schockiert: „Welche furchtbaren Qualen müssen sich hinter dieser Wand abgespielt haben?“ Er erzählte, dass das jüngste Kind bei seiner Befreiung einen vergnügten Eindruck gemacht und sich darauf gefreut habe, in einem richtigen Auto zu fahren. Das Tageslicht sahen diese Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben.

Josef F. gab nicht nur den Geheimcode preis, der den Zugang zu dem Kellerverlies öffnete, sondern ließ sich auch eine DNA-Probe abnehmen. Erste Laborproben sprechen für seine Vaterschaft. Elisabeth, ihre Kinder und ihre Mutter werden in einem Krankenhaus sozialpsychologisch betreut und vor der Öffentlichkeit abgeschirmt.