Die ganz großen Brüllrollen

König Drosselbart stiftete Constanze Becker an, sich in Extreme hineinzuversetzen. Heute spielt sie Mörderinnen mit gleicher Überzeugungskraft wie kleine Blonde. Gleich zweimal beim Theatertreffen

VON CHRISTINE WAHL

Man muss sich die Professorengattin Jelena Andrejewna als ätherische Schöne von großen melancholischen Gnaden vorstellen. Sämtliche Männer, die sich in Tschechows „Onkel Wanja“ nichtsnutzig auf dem Landgut der Familie Serebrjakow herumdrücken, sind dieser Frau hoffnungslos verfallen – weshalb Jelena-Darstellerinnen gern in dekorativer Schwermut und Haute-Couture-Kleidern auf Terrassen hocken und es tunlichst vermeiden, ihre Qualitäten als Projektionsfläche durch allzu markante Eigenkonturen zu untergraben. Und dann kommt Constanze Becker als barsche, komplett eitelkeitsfreie Frühdesillusionierte auf die Bühne, wehrt die sabbernden Übergriffe ihres Pflegefalles von Gatten im grabbeltischverdächtigen Baumwollschlafanzug ab und weiß genauer, als sie eigentlich selbst ertragen kann, dass die versammelten Männerhände, die ständig nach ihr greifen, nicht sie, sondern nur den letzten vermeintlichen Rettungsanker aus ihrem eigenen verpfuschten Leben heraus meinen!

Was Becker – gemeinsam mit ihren Kollegen – in Jürgen Goschs Inszenierung am Deutschen Theater Berlin und heute Abend auf dem Theatertreffen spielt, ist Tschechow ohne den leisesten Anflug irgendeiner Erlösungsillusion: so knallhart und punktgenau, dass man sofort Rehabilitationschancen für ganze Hundertschaften blutarmer weltdramatischer Frauenfiguren sieht. Mit Becker würde einen so ein herzensreines Goethe-Gretchen oder eine aus Liebe sterbende Shakespeare’sche Ophelia, die man noch nie sonderlich spannend fand, plötzlich brennend interessieren!

Es ist also mehr als recht und billig, dass Constanze Becker dieses Jahr gleich zweifach beim Theatertreffen vertreten ist – außer als Jelena auch als tragische, sich in illegale Adoptionshändel verstrickende und schließlich selbst tötende Frau John in Michael Thalheimers Hauptmann-Inszenierung „Die Ratten“. Selbstmörderinnen, Frühdesillusionierte oder Gattenmörderinnen wie Klytämnestra – ihre Erfolge am Deutschen Theater Berlin, wo sie seit eineinhalb Jahren engagiert ist, feierte die Schauspielerin nicht gerade mit Sympathieträgerinnen. „Stimmt“, sagt Becker, „mich interessieren die Extrememotionen und -vorgänge. Je ferner mir etwas selbst ist, desto reizvoller finde ich es, es darzustellen.“

Es scheint sich hier um die konsequente Fortführung einer frühkindlichen Neigung zu handeln: „Mein Durchbruch“, lacht Becker, „war der König Drosselbart. So mit acht oder neun. Weil kein Junge den Text lernen wollte.“ Mann, Monarch, Bart, Krone „und Prinzessinnen scheiße behandeln“ – viel weiter kann man sich als behütetes Mädchen in einer norddeutschen Kleinstadt, namentlich Lübeck, wohl wirklich nicht vom Ego entfernen.

Dass ein Gespräch mit der Schauspielerin fast genauso großen Spaß macht, wie ihr auf der Bühne zuzuschauen, liegt daran, dass sie erstens eine große Freundin der gehobenen (Selbst-)Ironie ist und zweitens nicht zu jenem Menschenschlag gehört, der sich in Interviews pointenverliebt um Kopf und Kragen redet. Man merkt ihr an, dass sie viel nachdenkt und sich dabei offenbar so gut kennengelernt hat, dass sie ziemlich gut mit sich . und ihren perfektionistischen Eigenansprüchen – klarkommt. „Ich habe schon Verrisse über mich gelesen, die ich sehr amüsant fand – weil sie intelligent und witzig geschrieben waren und einfach recht hatten“, gibt Becker zum Beispiel unumwunden zu Protokoll.

Schwer vorstellbar, dass diese Nachdenklichkeit – jene spielerische Intelligenz, die Beckers Figuren heute so faszinierend macht, weil sie gleichzeitig heftigste Gefühle auszulösen und ordentlich die Hirnaktivität zu pushen imstande ist – in den ersten Semestern an der Schauspielschule „Ernst Busch“ beinahe zur Exmatrikulation geführt hätte. „Am Anfang hieß es immer: Los, jetzt mal einer rauf auf die Bühne! Spiel mal: meine Mutter und ich“, erzählt Becker. „Und die anderen rannten da halt hoch und spielten, während ich immer dachte: Oh Gott, ich muss mir was überlegen! Ich hatte die Freiheit überhaupt nicht, so mit diesem Beruf umzugehen, weil das mein Heiligtum war, auf das ich sieben biblische Jahre“ – also ungefähr seit dem elften Geburtstag – „gewartet hatte.“

Mit den Einzelszenenstudien – und der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni als Gastdozentin – begann dann allerdings Beckers Aufstieg. In Andres Veiels Dokumentarfilm „Die Spielwütigen“, der sie und drei andere Studenten von der Aufnahmeprüfung bis zum Diplom begleitet, moniert Becker direkt nach einem ziemlich spektakulären Auftritt als Königsmutter Atossa aus Aischylos’ Drama „Die Perser“, mit ihren Anfang zwanzig ständig im betagten Damenfach zu landen. Das hat sich relativiert, seit sie – vor ihrer DT-Zeit in Düsseldorf – auch zur Genüge „so kleine Blonde“ spielen durfte: „Hauptmann, ‚Vor Sonnenuntergang‘, die Kindergärtnerin!“, sagt Becker wieder mit ihrer schönen Subtilironie. „Die hat einfach nur geliebt. Mehr war da auch nicht zu machen!“ Es scheint gerade alles zu stimmen für die Schauspielerin: eines der ersten Häuser, tolle Rollen, Regisseure, mit denen zu arbeiten sie liebt – von Gosch bis Thalheimer. Was wünscht sie sich für die nächsten Jahre? Constanze Becker zögert keine Sekunde: „Die ganzen großen Brüllrollen natürlich!“ Sie habe in letzter Zeit mal wieder intensiv über „Penthesilea“ nachgedacht: „Das ist in seiner Brutalität so undarstellbar, dass mich das im Kopf beschäftigt – wie man es darstellt, dieses Undarstellbare!“

„Onkel Wanja“, 3., 5. Mai; „Die Ratten“ 10., 11., 12. Mai am Deutschen Theater als Teil des Theatertreffens