haus-sounds
: Über laute Nachbarn

Unter mir ist es jetzt meistens so ruhig. Ich mache mir manchmal richtig Sorgen. Sonst hat immer erst sie geschrien, dann irgendwann er und zwischendurch lief diese Rums-Musik. Das war wie ein Hör-Soap.

Gelegentlich habe ich mich auf den Boden gelegt, um zu verstehen, worum es ging, aber das war oft schwierig. Irgendwann fiel mir dann ein, dass die Familie von gegenüber ziemlich gute Sicht in mein Zimmer hat. Was die für Kolumnen schreiben könnten, wurde mir da erst bewusst: Von diesem Typen, der den ganzen Tag an seinem Schreibtisch sitzt und sich zwischendurch immer wieder unvermittelt auf den Boden legt, als wäre Erdbeben oder Luftangriff. Aber ich weiß nicht, wie selbsterklärend die Sache ist, wenn man das immer nur ausschnittsweise mitbekommt und von gegenüber.

Ich liege jetzt seltener interessehalber auf dem Boden, weil sich unten ja kaum noch etwas tut. Wahrscheinlich ist sie ausgezogen. Sie hat dabei offenbar auch ihren Musikgeschmack mitgenommen. Es laufen plötzlich ganz andere Sachen. Als ich das zum ersten Mal gemerkt habe, war ich richtig überrascht. Ich dachte zunächst, er spiele Gitarre. Dieses Gezupfe klang sehr monoton, aber nach einer Weile erkannte ich die Stimme des bayerischen Anti-Volkssängers mit der Hanfobsession. Das Lied hatte ich auch. Ich suchte die CD und versuchte, das Stück synchron zu spielen. Nach monatelangem Psycho-Techno, der mit zügigen 130 Beats pro Minute durch die Decke zu mir nach oben tropfte wie eine chinesische Wasserfolter, war ich ernsthaft erleichtert. Ein Gefühl wie Schulende, Maueröffnung, zweiter Sex. Erhebend.

Die Synchronisierung klappte leider nicht besonders gut. Während ich spulte, kam ich mir auch ein bisschen zu sehr wie ein Busfahrer vor, der lässig einem unbekannten, anderen zuwinkt, nur weil der gerade dasselbe tut wie er: nämlich Bus fahren. Der Typ von unten hörte das jetzt öfter. Manchmal sang ich leise mit: Marihuana für die Mama, fürs Kind, für den Herrn Zimmermann. Das war einmal ein CSU-Minister für Inneres und für den Verkehr.

Mittlerweile hat eine neue Musikphase eingesetzt. Es klingt nach dem musikalischen Ausdruck einer manischen Depression. Die meiste Zeit über ist es vollkommen still. Draußen rauscht leise das Automeer vorbei, Vögel zwitschern rücksichtsvoll dazu. Manchmal macht im Haus einer eine Tür auf. Oder zu. Oft auch: erst auf und dann wieder zu. Dann, plötzlich und äußerst unerwartet, beginnt der Boden schubweise zu vibrieren. Bierzeltbass. Dum – dum, dum – dum, dum – dum. Darüber eine kirchglockenhelle Frauenstimme. Energisch. Ich traue mich nicht, mich auf den Boden zu legen. Das alles ist extrem laut und meine Ohren pfeifen ohnehin schon die ganze Zeit. Den Liedtext kann ich trotz der Lautstärke nicht verstehen. Es klingt positiv.

Neulich saß ich mit Sentja beim Vietnamesen-Chinesen. Plötzlich und äußerst unerwartet wurde die Musik extrem laut. Derselbe Bierzeltbass. Dieselbe Stimme. Mir wurde kurz kalt und dann sehr heiß. Als Sentja sich etwas verstört nach den Boxen umsah, atmete ich beruhigt aus. Sie hörte es also auch. Jetzt konnte ich zum ersten Mal den Text verstehen: „Ich glaub, ich liebe das Leben.“ Seitdem frage ich mich, was das bedeutet. JOHANNES GERNERT