: Klang statt Klassenkampf
Altbürgermeister Henning Scherf, mittlerweile Chef des weltweit größten Chorverbandes, will mit dem in zwei Wochen steigenden „Chorfest“ eine umfassende sängerische Initialzündung anzetteln
Von HENNING BLEYL
Zwischen dem 22. und 25. Mai wird Bremen singende Menschenmengen beherbergen, die weder evangelikal orientiert sind (Christival 2008) noch kommerziell ausgebeutet werden (Chorolympiade 2004). Gut 200 Chöre, die zusammen 400 Konzerte geben, werden zu einem „Chorfest“ erwartet, das Bremen zum Meilenstein künftiger Musik-Annalen macht. Es ist das Vereinigungs-Festival des „Deutschen Sängerbundes“ mit dem „Deutschen Arbeitersängerbund“. Nach einer anderthalb Jahrhunderte währenden klassenkämpferischen Konkurrenz haben sie sich zum „Deutschen Chorverband“ zusammen geschlossen.
Der Spaltungsüberwindungs-Präsident des damit weltweit größten Sängerverbundes ist Henning Scherf. Vom Chorfest erhofft er sich nicht nur die Initialzündung für eine neue Singbewegung, er sieht es auch ganz pragmatisch als „Nagelprobe“ für das Modell einer sparsamen und effizienten Großveranstaltung: „Da hat kein früherer Bürgermeister in die Kasse gegriffen.“ In der Tat ist der Veranstaltungs-Etat mit 700.000 Euro eher bescheiden kalkuliert, lediglich 20 Prozent steuert die öffentliche Hand bei. Die „Chorolympiade“, zu der das veranstaltende Reiseunternehmen mit zahlreichen „Medaillen“ gelockt hatte, war vom Wirtschaftsressort mit fast 2,6 Millionen Euro unterstützt worden. Auch personell gibt es weitreichende Unterschiede: Statt Gotthilf Fischer ist Thomas Quasthoff als „Vorsänger“ engagiert.
Während es früher alle zehn Jahre ein Riesentreffen mit bis zu 40.000 Beteiligten gab, setzt der Chorverband jetzt auf Kontinuität und Kleinteiligkeit. Nach dem Neustart in Bremen mit 7.500 TeilnehmerInnen will der Verband in vierjährigem Rhythmus weitermachen. Auch inhaltlich geht man neue Wege: Das ins Programm integrierte Wertungssingen verabschiedet sich von traditionellen Kategorien wie „Männerchor“, „Kinder-“ oder „Kirchenchor“. Statt dessen sortiert die Jury anhand der gesungenen Literatur à la Barock, Pop oder Romantik. Das mag mehr die Insider interessieren, für die jedoch ist es geradezu ein Paradigmenwechsel.
Scherf selbst ist zweifellos ein Sänger-Insider, auch wenn seine letzte organisierte chorische Tätigkeit die eines ersten Soprans im Knabenchor der Liebfrauenkirche war. Nun will er unter anderem im Pier 2 dabei sein, wenn Generalmusikdirektor Markus Poschner per Rundum-Dirigat 2.300 BesucherInnen zum Singen des „Messiah“ animiert, unter ihnen Herr und Frau Köhler vom Bundespräsidialamt. 1.000 Kindergarten-Kids tragen die Feststimmung mit einem von Stephan Reiss vom „Kinder und Jugendchor im Viertel“ komponierten Kanon auf den Marktplatz: „Hört mal zu, wir sind ganz Chor!“ Nebenbei will auch der Deutsche Kirchentag, 2009 in Bremen, im Rahmen des Chorfestes sein neues Liederbuch erproben. Scherf: „Die Frage ist: Wo gehen die Bremer mit und wann sagen sie: Oh Gott, da sind ja schon wieder Chöre.“
Bei solcher klanglichen Masse kann man fast übersehen, dass der Chorverband eine klug angelegte musikpädagogische Strategie verfolgt: Mit seinem seit 2005 verliehenen „Felix“-Zertifikat für gesanglich engagierte Kindergärten rollt er das musikalische Feld sozusagen von unten her auf – in der Hoffnung, dass die gesanglich animierten Kinder auch in den Schulen nicht zum Schweigen zu bringen sind. Bei Kindergärten gilt ein „Felix“ bereits als Standortvorteil.
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