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„Wer als Zweiter kam, weiß man nicht“

Der Hamburger Journalist Christian Gräff hat das „Lexikon der Verlierer“ geschrieben. Darin trifft man nicht nur antike Helden, gescheiterte Entdecker und verkannte Forscher, sondern auch lahme Rennpferde und den Opel Astra. Ein Gespräch über das Interesse an den Unterlegenen

CHRISTIAN GRÄFF, 44, ist Redakteur bei den ARD-Tagesthemen und gelernter Literaturwissenschaftler

INTERVIEW MAXIMILIAN PROBST

taz: Herr Gräff, warum schreibt man ein Buch über Verlierer?

Christian Gräff: Wir haben doch alle eine Affinität zu Verlierern. Sie haben eine Tragik, die sie für uns interessant macht. Und ihr tragisches Schicksal vermittelt uns das Gefühl, selbst glücklich davon gekommen zu sein.

Können Verlierer nicht auch ganz banal sein?

Vielleicht schon, aber die haben mich wenig gereizt. Mein Buch erzählt vorwiegend die Geschichten von Personen, die nach Großem strebten und die manchmal nur um Haaresbreite den Sieg verfehlt haben. Und wenn man nun zusieht, wie ein solcher Mensch mit all seinen Ambitionen scheitert, dann kann man sich vielleicht auch besser mit der eigenen Normalität abfinden.

Das klingt nach einer Entlastungsstrategie.

Ja, das kann man so sehen. Es gibt dafür ein schönes Beispiel, wenn auch kein tragisches: In der Bildzeitung prangt auf der ersten Seite eine knapp oder gar nicht bekleidete Frau. Sie räkelt sich auf dem Sofa und darunter steht dann gern mal eine Unterzeile wie: Yvonne wartet auf ihren Mann und jetzt ist ihr das Essen angebrannt. Selbst das funktioniert ja so, dass die Hausfrau sich beim Lesen sagt: Okay, ich sehe nicht aus wie Yvonne, aber dafür lasse ich auch nicht das Essen anbrennen.

Aber drückt diese Entlastungsstrategie nicht die falsche Botschaft aus? Dass man sich lieber zurücklehnen solle, statt sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?

Für einige mag das zutreffen und das ist auch vollkommen in Ordnung. Wenn sie lieber bequem leben, warum nicht? Für andere wiederum können die Verlierer inspirierend sein. Viele von denen, die ich schildere, sind ja weit gekommen und haben sich nicht beirren lassen. Gregor Mendel etwa, der die Vererbungsregeln erforscht hat und damit der Wissenschaft so weit voraus war, dass seine Entdeckung zunächst unbeachtet blieb.

Wer sind denn Ihre liebsten Verlierer?

Ich habe für fast alle Figuren im Buch große Sympathie entwickelt. Ich könnte aber drei Gruppen unterscheiden: Zuerst die Figuren der griechischen Sagen wie Sisyphos. Dann habe ich eine Leidenschaft für reale Personen, die eine große Fallhöhe nicht gescheut haben: Scott, der zu spät am Südpol ankommt und demoralisiert auf dem Rückweg stirbt. Und schließlich die skurrilen Fälle: Laika, die Hündin, die von den Sowjets als Versuchskaninchen ins All geschossen wird und dort verglüht. Oder der Mittelklassewagen Opel-Astra, der vom Verkaufsrenner VW-Golf immer nur die Heckleuchten zu sehen bekam. Und natürlich das japanische Rennpferd Haru Urara. Sie legte eine Serie von 106 Niederlagen hin – und gewann damit die Herzen der Japaner. Reiseveranstalter bieten Haru-Touren an, ein Popsong feiert sie und T-Shirts tragen ihr Konterfei.

Wie sind Sie denn auf diese Geschichten gestoßen?

Viel war Zufall. Es gibt auf dem Gebiet der Verlierer keine Systematik. Am Anfang habe ich noch versucht, an den Fachbereichen der Universitäten nachzuforschen, aber da hieß es: Es gebe nur eine Geschichte der Gewinner, die größten Entdecker und Erfinder und so weiter, wer aber als Zweiter kam, dass weiß man meistens nicht.

Wo haben Sie dann gesucht?

Die skurrilen Fälle findet man manchmal in Zeitungen. Die Philadelphia Phillies etwa, ein Baseballteam, kommen aus der taz. Am 17. Juli 2007 verloren sie zum 10.000. Mal – und die 44.872 Zuschauer im Stadion erhoben sich von den Sitzen und applaudierten.

Sie schreiben, dass Zeichentrickfiguren wie Charlie Brown die modernen Wiedergänger der griechischen Sagenfiguren seien. Gibt es Epochen, die mehr, andere, die weniger Gefallen an Verlierern finden?

Bei den Griechen taucht die Figur des Verlierers zwar auf, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie ein Sympathieträger ist. Der Verlierer wird ja bei ihnen aufs Schrecklichste gequält, meistens als Strafe für Vermessenheit gegen die Götter, selbst dann noch, wenn sie wie Sisyphos nur nach dem Guten streben. Ich glaube, die Welt der Griechen ist zu götterlastig, als dass dort Sympathie mit den Verlierern aufkommen könnte.

Demnach könnte es die Sympathie mit dem Verlierer erst dann geben, wo die Menschen erkennen, dass sie selbst für ihr Schicksal verantwortlich sind.

Ja, mir scheint das tatsächlich eine moderne Errungenschaft zu sein, eine Errungenschaft, die ihre Wurzeln wahrscheinlich in der Aufklärung hat. Die Sympathie mit den Verlierern, wie sie sich etwa in der Figur von Charlie Brown manifestiert, ist im Grunde genommen nur verständlich, wenn man einen starken sozialen Gedanken voraussetzt. Und sie wird umso wichtiger, je größer die Schere zwischen oben und unten auseinander klafft, wie das heute leider der Fall ist.

Fällt Ihnen denn eine Figur ein, aus der Literatur zum Beispiel, die für den neuen sozialen Abstieg steht?

Nein, vielleicht muss man darauf noch warten, es ist ja häufig so, dass man Abstand braucht, um ein neues Phänomen angemessen in den Blick zu bekommen. Man wartet ja immer noch auf den eigentlichen Wenderoman. Aber mir fällt doch auf, dass es zum Beispiel in England eine sehr viel intensivere Beschäftigung mit prekären Lebenslagen gibt. Seit Jahren werden da Filme gedreht über die abgehängten Arbeiterstädte, und wie die Menschen dort versuchen, sich aus dem Elend herauszuhangeln.

In Deutschland...

Scheint man sich mit dem Thema allerdings zu verspäten. In der angelsächsischen Kultur gilt Verlieren eben als eine Etappe und nicht als Endstation.

Christian Gräff, Lexikon der Verlierer: Von Adam bis Zinedine Zidane. Fackelträger Verlag, 16,95 Euro.

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