Schlammschlacht

Zum Mitgrölen: Ins Haus der Kulturen der Welt kommt eine alte Theaterdynastie aus Japan mit „Sommerfest: Ein Spiegel von Osaka“. Als Einstimmung ein Glossar zum Kabuki-Theater

VON GERD HARTMANN

Ka-bu-ki: Wenn das bescheidene Landmädchen sich in den Geist eines Löwen verwandelt hat, balanciert sie einen Fellhut mit mindestens einem Meter Durchmesser auf dem Kopf. Ihr Kimono schillert farbenfroh, das üppig geschminkte Gesicht gleicht einem Gemälde. Kabuki setzt auf Dröhnung fürs Auge und hat auch sonst alle Elemente, die pralles Volkstheater ausmachen: Musik, Tanz, riesige Gesten und jede Menge publikumswirksame Showeffekte. Das ist kein Zufall. Seit seinen Anfängen im frühen 17. Jahrhundert war Kabuki immer kommerziell ausgerichtet und erfolgreich. „Schräg“ oder „daneben“ bedeutet die Wortkombination in der wörtlichen Übersetzung und in einer alten Schreibweise auch „singende, tanzende Hure“.

Volkstheater: Nach einem Bürgerkrieg und der darauf folgenden Reichseinigung suchte sich das gesellschaftlich erstarkte japanische Bürgertum im 17. Jahrhundert eine Unterhaltungsform, die sich möglichst weit von den esoterisch-minimalistischen Verfeinerungen des Noh-Theaters der adligen Samurais absetzte. Sie fand sie in einer deftigen Mischung aus Tanz und komischen Szenen, die ausschließlich von Frauen ausgeführt wurde. Die anregende Unterhaltung hörte oft nicht mit dem Ende der Vorstellung auf, was schnell zu Moraldebatten führte.

Gender: Schon bald wurden Frauen von der Bühne verbannt. Das bunte Entertainment musste sich als reine Männerdomäne neu erfinden. Seitdem bevölkern streng stilisierte Figuren die Stegbühnen, die mitten ins Publikum ragen. Helden mit übernatürlichen Kräften werben um anmutige Frauen, es gibt Kampf und Mord – vom Inhalt her gar nicht so weit weg vom klassischen europäischen Theater. Von der Form her allerdings schon. Die abgezirkelte Künstlichkeit der Gesten ist für westliche Augen sehr fremd. In Japan ist Kabuki nach wie vor populär und steht mittlerweile auf der Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes.

Dynastie der Schauspieler: Sein Name liest sich, als wäre er ein echter Royal: Nakamura Kanzaburo XVIII. ist der Star des Gastspiels im Haus der Kulturen der Welt, „Sommerfest: Ein Spiegel von Osaka“. Seit 400 Jahren stehen die männlichen Mitglieder seiner Familie ununterbrochen auf den klassischen Stegbühnen. Der 53-Jährige ist in Japan nicht nur eine Ikone und wird wie ein Popstar verehrt. Mit seinem Projekt Heisei Nakamura-za versucht er auch die Verkrustungen des Genres aufzubrechen und es vom Ruch eines Theaters für alte Leute zu befreien. Dabei scheut er vor der größten Tabuverletzung nicht zurück: der Veränderung der Form. Er möchte den spezifischen Dialog zwischen Darsteller und Publikum wieder mit Leben erfüllen. Dazu bedarf es moderner Mittel – seien es Verweise aufs aktuelle Zeitgeschehen oder Alltagskostüme.

Fünf Schiffscontainer: Auf grelle Schminke und Kimonos wird bei dieser Kombination aus Avantgarde und Klassik trotzdem nicht verzichtet. Der Bruch mit Traditionen soll vielmehr eine lebendige Suche nach den Ursprüngen sein. Deshalb ließ Kanzaburo für die Aufführungen seiner 100 Mitglieder starken Truppe ein zerlegbares Holztheater konstruieren, das an die Anfänge aus der so genannten Edo-Zeit erinnert. In fünf 40 Fuß langen Containern wurde es nach Berlin verschifft und in den Saal des HdKW eingebaut.

Mie – Posen zum Mitgrölen: Das klassische Kabuki ist ganz auf die Schauspieler zentriert. Die Geschichten sind zweitrangig, beklatscht wird die Darstellerleistung. Der Bewegungskanon ist genau festgelegt und wird in den Schauspielerfamilien von Generation zu Generation weitergegeben. Die höchste Kunst besteht im möglichst perfekten Vorführen tradierter Posen (mie) während des Handlungsablaufs. Hat das gut geklappt, erstarrt der Schauspieler sekundenlang und das Publikum schreit ihm Kommentare und seinen Namen entgegen. Danach geht es weiter. Bis zur nächsten Zuschauerrunde.

Regie: Einen Regisseur im Kabuki? Gibt es eigentlich gar nicht. Traditionell übernahm der Hauptakteur gleichzeitig die Spielleitung. Kazuyoshi Kushida, 65, arbeitet trotzdem seit 13 Jahren erfolgreich als Kabuki-Erneuerer. Eigentlich ist er in Japan für seine Inszenierungen westlich orientierter Stücke und Autoren bekannt. 1994 sah Nakamura Kanzaburo seine Version der „Dreigroschenoper“ und schlug ihm sofort eine Zusammenarbeit vor. „Vor lauter Respekt vor der Form hat man mittlerweile den Inhalt vergessen“, beschreibt Kushida die Schwächen des klassischen Kabuki. Dass man die Geschichten wieder nachempfinden kann, ist für ihn der Ansatzpunkt seiner Arbeit. Er fragt nach dem Grund für eine Geste – und bricht sie, wenn der heute nicht mehr nachvollziehbar ist.

Mord auf dem Sommerfest: „Sommerfest“ erzählt die Geschichte von einem Fischhändler, der um seine Ehre kämpft. In einer zentralen Szene ist der Boden mit Erde bedeckt. Ein Mord findet statt. Anstatt das, wie überliefert, streng stilisiert darzustellen, macht Kushida daraus eine realistisch-wüste Schlammschlacht im Kerzenschein. Ganz sinnensatt und direkt, mit einer ähnlichen Energie, wie sie wohl auch zur Edo-Zeit dem Publikum entgegenschlug. „Damals war Kabuki, was heutzutage Rock oder Punk sind. Man hat das Leben der normalen Leute gespielt“, sagt Kazuyoshi Kushida. Genau da will er wieder hin.

„Sommerfest: Ein Spiegel von Osaka“. 14.–21. 5., 19.30 Uhr, Sa. auch 14.30 Uhr, Haus der Kulturen der Welt