Treptower Ehrenmal

Tag des Sieges

Von Viertelstunde zu Viertelstunde werden es mehr. Sie kommen einzeln oder als Paare mit und ohne Kinderwagen, in Großfamilien oder in kleinen Gruppen. Es sind Russen, Kasachen, Tataren, Kalmücken, Ukrainer, Russlanddeutsche. Sie nicken sich zu wie Bekannte. Einige der Älteren scheinen alten sowjetischen Filmen entsprungen, einige der Jüngeren sehen übernächtigt aus. Sie haben Nelken bei sich, manche noch in Papier gewickelt, auf dem „5 Tage Frischegarantie“ steht. Sie steigen die 55 Stufen zum Mausoleum hoch, legen ihre Blumen rechts und links auf den Vorsprüngen ab, schauen in das Innere des Mausoleums und danach zu dem bronzenen Soldaten mit dem Kind auf dem Arm hoch, dessen Schwertspitze genau auf ihre Köpfe zielt.

„Achtung, Mädchen“, sagt ein Mann mit Fotoapparat auf Russisch und die beiden älteren Damen legen das schönste Lächeln auf, das ihr kirschrot bemalter Mund ihnen erlaubt. Im Vordergrund sie auf dem Mausoleumshügel, im Hintergrund die Pylonen, die Sarkophage, die Bäume des Treptower Parks und die Kugel des Fernsehturms. Das Display zeigt das Datum: 09.05.08, 9:35 Uhr. An ihnen vorbei drängt sich eine ebenso alte Frau mit Dutt und zehn Zentimeter hohen Stilettos, ihr Parfüm riecht süßlich. Am Rande des Hügels sitzt eine junge Frau, eine halb leere Flasche Weißwein neben sich, rauchend und einen russischsprachigen Krimi lesend. Sie wird umschwirrt von Kindern, die Käppis sowjetischer Soldaten auf dem Kopf haben und die Blumen auf dem Hügel verteilen.

Auf dem siebenten Sarkophag nisten Spatzen. Zwei jüngere Männer in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen bleiben davor stehen, lesen den Spruch von Stalin und brechen in Gelächter aus.

ANNETT GRÖSCHNER