Die Klaue der Wissenschaft

Der spektakuläre Museumsbau von Zaha Hadid zeigt im Innern das Getriebe der Welt. Physikalische Phänomene, Strom, Wasser, Schall. Kunst dient als Medium und Mittler. Seit 2005 ist das phaeno ein Grund mehr für einen Stopp in Wolfsburg

Alfred Edmund Brehm, geboren 1829 in Thüringen, verbrachte seine Kindheit mit 9.000 ausgestopften Vögeln seines Vaters, was wohl den Grundstein legte für „Brehms Tierleben“. Euphorisch und anschaulich lässt Brehm „exotische Säugetiere“ lebendig werden, beschreibt das Löwenfell als „Herrschermantel, der sich um ihre Schultern schlägt“. Brehm war viel unterwegs, in Afrika und in der Arktis, seine Wissenschaftsprosa ist ein Dokument der Tierliebe, er kennt schöne, fast vergessene Wörter wie „Wüterich“, beschreibt der Affen „widerliche Fratzenhaftigkeit“, um sich sogleich zu korrigieren. „Es gibt bildschöne und sehr hässliche Affen – mit dem Menschen ist das nicht viel anders.“

Roger Willemsen spricht dieses für den Bildungsbürger perfekte Vorlese-Buch in leicht onkelhaftem Ton, lässt sich aber mitreißen von der Begeisterung.

Ein Dutzend Klassiker der Abenteuerliteratur hat die GEO-Redaktion für ihre Hörbuch-Reihe „Weit draußen“ ausgewählt. Eine echte Entdeckung in dieser Box ist Robert M. Sapolskys „Mein Leben als Pavian“. Der Primatenforscher Sapolsky, 1957 in Brooklyn geboren, betrieb jahrelang in Kenia Feldforschung mit Steppenpavianen. Uneitel und hochkomisch, launig und tieftraurig erzählt er vom Leben und Sterben seiner Paviane und vom Leben in Afrika ebenso. Tourismus ist die heilige Kuh des Landes, und so kümmert sich kaum jemand um das Elend „meiner Paviane“. Denn Schuld an deren schleichendem Tod ist ein Safarihotel, das tuberkulöse Rinder heimlich schlachtet. Die Schlachtabfälle werden zum todbringenden Futter der Paviane. Sapolsky beschreibt zwar seine wissenschaftliche Arbeit, aber vor allem Korruption und Schönheit Afrikas. Allerbeste Wissensvermittlung wird wie nebenbei vorgetragen von Christoph Waltz, der die Balance hält zwischen Unterhaltung und literarischem Ton. BARBARA SCHAEFER

Robert M. Sapolsky: „Mein Leben als Pavian“. Gelesen von Christoph Waltz, 6 CDs. GEO Hörwelten, Randomhouse Audio

„Brehms Tierleben. Exotische Säugetiere“. Gelesen von Roger Willemsen. 2 CDs. Tacheles

VON CHRISTINE BERGER

Ein stetig auffrischender Wind fegt um die Sockel des Gebäudes, das aussieht, als hätten sich die Finger einer Hand in den Boden gebohrt. Phaeno, das spektakuläre Wolfsburger Wissenschaftsmuseum, ist an sich ein Phänomen: Wind, der nur hier existiert, weil das Gebäude im Erdgeschoss löchrig ist wie ein Schweizer Käse und für Durchzug sorgt. Schräge Fenster, von denen einige seit der Eröffnung geborsten sind, weil sie dem Druck des Verwinkelten nicht standhielten. Und dann das Fehlen von Graffiti. So viel schlichte graue Betonfläche ohne ein einziges Sprühbild dürfte in Europa einzigartig sein. Eine Reminiszenz der Sprayerszene an die Architektin Zaha Hadid? Vielleicht liegt es aber auch nur an Wolfsburg, dieser unspektakulären Autostadt im Schatten der VW-Werke. Gegründet 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“, um den Arbeitern der Autofabrik eine Heimstatt zu geben. Heute besteht Wolfsburg aus sauberen, unscheinbaren Straßen mit gesichtslosen Mietshäusern, einer Fußgängerzone, wie sie zuhauf in westdeutschen Städten zu finden ist, und einer Pfarrei, in der es noch einen sogenannten Industriepfarrer gibt, der den Angestellten seinen Segen gibt.

Doch wäre nicht diese Tristesse des Durchschnittlichen, würden die architektonischen Leuchttürme wahrscheinlich gar nicht als solche erscheinen. Etwa Hans Scharouns Philharmonie, in der das Wolfsburger Stadttheater Vorstellungen gibt. Oder Wolfgang Müthers Planetarium in direkter Nachbarschaft sowie das Alvar-Aalto-Kulturhaus im Zentrum. Ganz zu schweigen von dem international viel beachteten Kunstmuseum. Diese Bauten sind Highlights, für die es sich lohnt, den ICE nach Berlin am Wolfsburger Hauptbahnhof zu verlassen.

Seit 2005 ist das phaeno, der Bau Zaha Hadids, ein Grund mehr dafür. Während sich Kinder für den Inhalt begeistern, sind Erwachsene zunächst eher an der Architektur interessiert. Doch wer durch die weitläufige Betonhalle und die wabenartigen Gänge wandelt, muss zwangsläufig auch über die Themenstationen im Science-Center staunen. Im August etwa ist Europas größte Blitzmaschine in Betrieb gegangen. Mit viel Schall und Rauch werden stündlich die Gesetze des Faraday’schen Käfigs vorgeführt. Oder der Feuertornado, der beeindruckend zeigt, wie Waldbrände meterhohe Flammenwindhosen entstehen lassen. Viel Spielerei ist zu sehen: etwa Schallexperimente mit verschieden langen Orgelpfeifen, Strom, der mit einer Kurbel von Hand erzeugt wird, oder Wellenmaschinen. 250 Experimente veranschaulichen naturwissenschaftliche Phänomene, vieles davon wird in den Technikmuseen der Welt ähnlich gezeigt. Spektakulärer sind da schon die Medienkunst-Installationen, die der phaeno-Initiator Dr. Wolfgang Guthardt vor allem in den USA eingekauft hat. Etwa der „Textregen“ von Camille Utterback und Romy Achituv. Besucher stellen sich vor eine angestrahlte Wand, auf der es darauf projizierte Buchstaben regnet. Mit Bewegungen und ihrem Körper können sie die Buchstaben aufhalten. So werden auf ausgestreckte Armen und Köpfen Wörter gebildet, die mit dem Thema Wasser zu tun haben. Die ebenfalls interaktive Computerinstallation des Kaliforniers Scott Snibe wiederum berechnet auf einer Fläche die Schatten der sich darauf befindenden Personen und teilt den Raum zwischen ihnen mittels angestrahlten Grenzlinien auf. Halten sich zwei Menschen an den Händen, wird ihnen schließlich eine einzige Fläche zugewiesen. „Gemeinsam die Grenzen überwinden“ könnte deshalb die Synthese des Kunstwerks lauten.

Wolfgang Guthardt, Wolfsburger Kulturdezernent und phaeno-Geburtshelfer, ist ein Mann, der sich auskennt in der Multimedia-Kunstszene. „Immer mehr Künstler arbeiten für Science-Center.“ Die Nachfrage nach Kunst, die Elektronik oder Mechanik auf ungewöhnliche Weise veranschaulicht, wächst in dem Maß, wie neue Unterhaltungspaläste mit wissenschaftlichem Anstrich entstehen. Inspiration für „sein“ Wissenschaftsmuseum holte sich der Kulturmäzen auf der ganzen Welt. Doch die Recherche gestaltete sich schwierig. „Versuchen Sie mal, Reisekosten abzurechnen, dann sagen alle gleich, der Guthardt fliegt in der Welt herum und lässt es sich gutgehen.“

Wie alle in der Stadt fährt Guthardt, der auch Stiftungsvorstand der phaeno ist, ein Auto aus dem Hause VW, schließlich ist der Konzern unter anderem Sponsor des Wissenschaftsmuseums. Vis à vis vom Betongewölbe liegt die Autostadt, dieser selig machende Vergnügungspark, in dem die Wagen hinter Glas stehen und die Menschen draußen nach Herzenslust flanieren können, ohne dass sie auch nur ein Auspuffwölkchen dabei stört. Guthardt weiß nur Gutes über den Konzern zu berichten. Und er ist froh, dass die Stadtverordnetenversammlung ihn nicht davongejagt hat, als die Kosten für phaeno mit 78 Millionen Euro aus dem Ruder liefen. Zwar ist Wolfsburg dank Autoindustrie eine reiche Stadt, doch die Manie, für Architektur viel Geld auszugeben, scheint den 120.000 Einwohnern angesichts des schlichten Stadtbildes eher fremd zu sein.

Heute sind die Wolfsburger jedoch stolz auf ihren neuen Kulturmeiler, der sich nun als Stiftung selber tragen muss. Und sie schützen das Gebäude, wenn wieder einmal Schalke-Fans aus dem Ruhrpott an der Klaue vorbei zum Fußballstadion bummeln. „Was ist denn das?“, werden die weiblichen Aufpasserinnen gefragt. „Ein Museum“, lautet die knappe Antwort. Vielleicht lässt sich daraus ein Geschäft machen.

Seit Neuestem gibt es ein Kombiticket VfL Wolfsburg und phaeno. Phaeno, Willy-Brandt-Platz 1, 38440 Wolfsburg, Di.–Fr. 9 bis 17 Uhr, Sa., So. 10 bis 18 Uhr, Info-Tel.: (01 80) 1 06 06 00, www.phaeno.de