300 Laiendarsteller spielen Perser

Im Staatstheater wird die Zahl der Schauspieler die der Zuschauer überwiegen. Beitrag zum Festival „Theaterformen“, das in drei Wochen beginnt. Profis und mitwirkende Bürger diskutieren über Demokratie und die europäische Identität. Spektakuläre Inszenierungen zur Förderung höherer Einsicht

„Das sind ja unglaublich hohe Ansprüche an die Leute, sowohl vom Denken als auch an den Körper – und dann die Präzision“

VON BARBARA MÜRDTER

Für einen Chor müssen sich die 300 Menschen aus Braunschweig und Umgebung ganz schön bewegen. Monatelang probten sie in einer alten Fabrikhalle nicht nur zu sprechen, sondern auch in die richtige Richtung zu marschieren und ohne jemanden umzurennen. „Jetzt hier die Diagonale bilden und dann die Drehung, immer über rechts!“, kommandiert Regisseurin Claudia Bosse die amöbenhafte Masse.

Am Samstag war der große Tag, an dem die Laien zum ersten Mal auf der mehrere Stockwerke hohen Bühne im Großen Haus des Braunschweiger Staatstheaters standen. Hier wird das antike Stück „Die Perser“ am 6. Juni im Rahmen des Festivals „Theaterformen“ Premiere haben, das in diesem Jahr wieder zehn Tage lang handverlesene Sprechtheaterinszenierungen aus aller Welt präsentiert.

„Die Perser“, vom jungen Griechen Aischylos 472 v. Chr. verfasst, ist das erste überlieferte Stück der europäischen Kulturgeschichte, das sich mit einem zeitgeschichtlichen Thema auseinander setzt. Es bildet den Auftakt eines Theater-Diskurses über Demokratie, dem diesjährigen Leitthema des Festivals. Die ungewöhnliche Inszenierung sorgt dafür, dass dies nicht zu dröge wird.

Zum einen wird das Stück nach einer Textadaption von Heiner Müller ausschließlich auf der Bühne stattfinden – der Zuschauerraum ist geschlossen. Das Publikum, in der Minderzahl, mischt sich zwischen die Akteure und muss so zwangsläufig auf die raumgreifenden Bewegungen des Chors reagieren. Zudem wird Verwirrung gestiftet, indem alle Alltagskleidung tragen: Wer ist Protagonist, wer Zuschauer?

Seit April kommen die Braunschweiger „Perser“ zweimal in der Woche in kleinen Gruppen zu Proben zusammen. Sie alle – Menschen aus 19 verschiedenen Ländern – vom Teenager bis zur Rentnerin – hatten sich auf einen Aufruf der Theatermacher gemeldet. Für die Zeit, die sie opfern, bekommen sie viel zurück: nicht nur das Gefühl, gemeinsam an etwas Besonderem zu arbeiten, sondern auch professionelle Unterweisungen in Atem- und Stimmtechnik.

Auch wenn es jetzt schon imposant klingt: Wenn hunderte Laien-Kehlen wie ein Mann die alten Texte rezitieren, sitzt nicht gleich alles perfekt. Regisseurin Bosse springt ganz unprätentiös in Sweatshirt und Turnschuhen durch den weiten Raum. Mit ausladenden Gesten, fast tanzend, macht die 38-Jährige vor, wie sich die Masse bewegen soll, sie mahnt und korrigiert. Alles in allem ist sie aber von ihren Schäfchen begeistert: „Das sind ja unglaublich hohe Ansprüche an die Leute, sowohl vom Denken als auch an den Körper – und dann die Präzision. Sie sind unglaublich engagiert.“

Nicht nur Bosse, sondern auch Festivalleiter Stefan Schmidtke ist beeindruckt, wie stark auch das Begleitprogramm angenommen wird. Nach den Proben gibt es im Rahmen der für alle offenen Internationalen Theaterwerkstatt Diskussionsveranstaltungen mit Experten zu den verschiedenen in den „Persern“ aufgeworfenen Themen, insbesondere „Demokratie“ und „europäische Identität“. Schmidtke freut sich: „Da setzen sich dann immer noch 70, 80 Leute auf einen Rotwein zu uns und diskutieren mit.“

Beiden ist es wichtig, dass „Die Perser“ und andere rekordverdächtige Inszenierungen wie der sechsstündige Theater-Marathon am Ende des Festivals nicht nur als Spektakel wahrgenommen werden. Schmidtke bezieht sich dabei auf den Regisseur Luc Bondy: „Der hat mal gesagt, das Theater sei ein Zimmer mit Aussicht. Ich wünsche mir, dass es auch eins mit Einsichten ist.“

Hinter der Werbung mit Superlativen lauert Kluges und Sensibles. Wie im vergangenen Jahr schon in Hannover bewiesen, schafft Schmidtke bei der Zusammenstellung des Programms den Spagat zwischen Exklusivität und Volksnähe. Die persönlich im Vorfeld begutachteten Stücke lässt er gern auch an ungewöhnlichen Orten spielen, die das Theater mit der Stadt verweben und näher an die Menschen bringen.

In Braunschweig entdeckte er zum Beispiel den Rebenpark, einst eine Fabrik für Motorradhelme und heute Veranstaltungszentrum. In einer eigens aufgestellten Bretterbude mitten in der Stadt – „La Baraque“ – wird französisches Essen serviert und Musik gespielt. Das lädt auch Gelegenheitsbesucher ein, mal hereinzuschauen – und schon sind sie mitten im Theaterstück.

Diese Schmidtke’sche Inszenierung des Theaters in der Stadt wird in diesem Jahr von dem russischen Künstler Boris Michailow fotografisch dokumentiert. Auch die 300 Perser hat Michailow schon einzeln porträtiert. Ihre Konterfeis kleben derzeit an Braunschweigs Litfaßsäulen, um für das Festival zu werben.

Das Festival „Theaterformen“ findet vom 4. bis 15. Juni an sieben verschieden Spielorten in Braunschweig statt. Nächste Veranstaltung der Internationalen Theaterwerkstatt: „Der Atem der Bürger: Der tragische Chor als Erfindung einer demokratischen Gemeinschaft“, mit Prof. Sophie Klimis, Brüssel. 23. Mai, 21 Uhr, Rebenpark Braunschweig, Eintritt frei. Mehr Informationen unter: www.theaterformen.de