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: Ein komplexes Bild Emil Ciorans

Sechzehnjährig fiel mir zufällig das Buch „Lehre vom Zerfall“ (1949) in die Hände. Das war in den 70ern. Der Autor Emil Cioran schien da alles, aber auch wirklich alles aufzulösen, was Halt und Festigkeit suggerierte. Das wirkte auf einen verzweifelten Pubertierenden befreiend und sogar stabilisierend.

Ciorans Biograf Bernd Mattheus hat nun ein Porträt des radikalen Auflösers vorgelegt, das ein differenziertes, facettenreiches Bild zeichnet. Das ist gar nicht so einfach, denn Ciorans Weg beginnt zunächst bei den Gardisten, einer nationalistischen, antisemitischen Bewegung, die sich zur Errettung Rumäniens berufen fühlt. Später, in Berlin, entwickelt sich Cioran zum Bewunderer Hitlers und des Führermystizismus. Dessen Leistung sei es, „den kritischen Geist einer ganzen Nation ausgemerzt zu haben“. „Humanismus ist Illusion“ und „Pazifismus ist politische Masturbation“. Um diese Hardcore-Philosophie einzubetten, stellt sie Mattheus neben die Überzeugungen von Sartre, der fast zeitgleich in Berlin weilte und ungerührt die stalinistischen Schauprozesse rechtfertigte. In Ciorans Philosophie des Scheiterns scheint Wahrheit bestenfalls ansatzweise in Rauschzuständen aufzutauchen: in Euphorie, Trance, Rausch, Wahn oder Ekstase. In der radikalen Desillusionierung und dem Fehlen einer Begabung zum Glauben ortet Mattheus eine „atheistische Religiosität“. Die Rolle der Frau in dieser existenzialistischen Männerwelt besteht darin, Retterin, Heilerin oder erotische Muse zu sein. Ähnlich wie bei Otto Weininger bleibt den Frauen in der hier wirkenden Welt des übermächtigen männlichen Genius, der jede Verletzung seiner heterosexuellen Identität als Totalangriff empfindet, nur die Rolle, den durch Geistesqualen gemarterten Männern eine erotische Fluchtburg zu bieten.

In der Nachkriegszeit distanziert sich Cioran von seinen „Vorurteilen“, wie sie im Buch allzu vorsichtig genannt werden. Später wird er seine Begeisterung für verrückt halten: „Wie konnte ich einer … so wenig interessanten Nation einen Kult widmen?“

Paul Celan übersetzt die „Lehre vom Zerfall“ ins Deutsche. Allerdings weiß er da noch nicht, dass Cioran in den 30ern sich ganz im Mainstream nationalistisch-rassistischer Ideologien bewegte. In späteren Nachdrucken werden der von Mattheus als „politisch unkorrekte Äußerungen“ umschriebene Antisemitismus und sein Rassismus gegen die Ungarn eliminiert. Der Philosoph bittet den Verleger um „Unterdrückung meiner prähistorischen Wahrheiten“.

In Ciorans Welt führt absolute Erkenntnis zum Suizid, nichts ist grau, alles schwarz oder weiß. Die auf die Spitze getriebene Desillusion ist für ihn die höchste Form der Erkenntnis. Das Leben ist eine Krankheit, der Tod eine Erlösung. Aus heutiger Sicht würde ich empfehlen, Ciorans „Lehre vom Zerfall“ parallel zum „S.C.U.M.-Manifest“ von Valerie Solanas zu lesen, als Ergänzung. Wo sich der „kreatürliche Hirte“ mit seinen Schafen für Cioran der Vollkommenheit nähert, da stellt Solanas am XY-Träger Defekte fest: Es fehlt dem Mann ein Stück vom X, im Gegensatz zur Frau, der XX-Trägerin. Vielleicht liegt ja hier der Grund, dass in uns Männern der leidensvolle Drang zur totalen Vollkommenheit wohnt: Der Mann, so Solanas, sei eigentlich eine missgebildete Frau, und seine Aggressivität nährt sich aus dem daraus entstandenen Neid. Solanas empfahl die vollständige Eliminierung des Mannes und die Errichtung von Samenbanken. Cioran hätte ihr vermutlich sogar zugestimmt. WOLFGANG MÜLLER

Bernd Mattheus: „Cioran: Porträt eines radikalen Skeptikers“. Matthes & Seitz, Berlin 2008, 367 Seiten, 28,90 Euro