Schöne neue Gropiusstadt

Das mobile Theaterprojekt „X Wohnungen“ verwandelt städtische Problemzonen, zum Beispiel die Wohnmaschinen in der Gropiusstadt, in Must-go-Areas. Für den Moment der Inszenierung jedenfalls

VON ANNE PETER

„Neukölln rockt“, titelte ein Stadtmagazin unlängst marktschreierisch. „Gentrifizierung“, raunen die politisch Aufmerksamen. „Rütli-Schule!“ entsetzen sich die Pessimisten. Auch die Gropiusstadt gehört zu Neukölln. Doch wer hier nicht wohnt, kommt kaum in die Nähe.

Jetzt aber wird die Trabantenstadt bei der dritten Berlin-Auflage des Installationsformats „X Wohnungen“ in Szene gesetzt. Theater wird in Privatwohnungen aufgeführt, jeweils für nur zwei Zuschauer, im Zehn-Minuten-Takt – dazu hat Rechercheur Matthias Lilienthal, HAU-Kombinatschef und Erdenker des Formats, bereits in Kreuzberg und Lichtenberg, im Märkischen Viertel und in Schöneberg eingeladen. Das von ihm erstmals 2002 im Ruhrgebiet erprobte Konzept funktioniert ebenso in der Schweiz wie in den Elendsvierteln von Carracas – als offensive Stadtteilentdeckungsmaßnahme, die dringend empfiehlt: Hingehen!

Kunst funktioniert in diesem Zusammenhang als Aufmerksamkeitsvergrößerer und Wertschätzungsapparat für sozial-brüchige Realitäten – und verwandelt dabei vermeintliche No-go- für kurze Zeit in Must-go-Areas.

Wie kürzlich in Istanbul, wo der Berliner Theatermacher Exkursionen in den Stadtteil Tarlabași veranstaltete. In dieses heruntergekommene Viertel würden Theaterbesucher sonst „nie im Leben hineingehen“, meint Lilienthal und freut sich. Auch über die Highheels-beschuhte türkische Journalistin, die auf den abschüssigen Straßen Gehschwierigkeiten hatte.

Die Atmosphäre in Tarlabași habe für ihn etwas „zutiefst Verstörendes“ gehabt, sagt Lilienthal. Was „unendlich arm“ und „dreckig“ ist, soll bald luxussaniert werden. Kurz Vorbeischauen im sozialen Brennpunkt, ist das nicht auch bloß billiger Elendstourismus? Natürlich sei dies ein „heikler Akt“ mit „voyeuristischen Anteilen“, so Lilienthal. Andererseits würden bürgerliche Schichten selbst „zu etwas Ausguckbarem“, würden aus Beobachtern Beobachtete werden. Außerdem kann das Projekt bisweilen Sozialbeziehungen von gewisser Verbindlichkeit entwickeln.

Im Vergleich zu Tarlabași ist die Bezeichnung No-go-Area für Neukölln, das man bei „X Wohnungen“ (kuratiert von Dunja Funke und Christoph Gurk) alternativ im nördlichen Reuter- oder südlichen Körnerkiez erkunden kann, natürlich heillos zugespitzt. In der Gropiusstadt angekommen, wird man, eben noch aus der U-Bahn in die Shopping-Mall gespuckt, mit einer Schnitzeljagd-Wegerklärung losgeschickt.

Erste Station: das erste Stockwerk eines Hochhauses, erste Tür rechts. Eine junge Frau bittet uns auf ihre pfirsichfarbene Couch. Es bleibt indes wenig Zeit zum Umsehen, denn gleich geht es los mit „Gropiopolis“ vom Künstlerkollektiv „copy & waste“. Auf einem rasengrünen Spielbrett wird bei rasanter Erzählgeschwindigkeit mittels Papphäusern und Plastikmenschlein Gropiusstadt im Zeitraffer nachgestellt. Beim Aufbau und der Entwicklung der von Walter Gropius geplanten und zwischen 1962 und 1975 entstandenen Satellitensiedlung musste aufgrund des Mauerbaus statt in die Breite plötzlich in die Höhe gedacht werden. Erzählt wird das aus der Sicht einer alteingesessenen, jetzt allerdings nur virtuell anwesenden Rentnerin, die man am Ende per DVD als eine der „Gropiuszicken“ fesche Schlager singen sieht.

An der nächsten Station nehmen uns zwei auf Russenmafia getrimmte Typen etwas gewollt provokant in die Mangel, fordern Handy, Pass und Geld – doch zu sicher weiß man, dass man gleich wieder entlassen wird. Dann geht es per Lift hoch in den 15. Stock und plötzlich: Kunst! Heiner Goebbels’ Installation postiert den Besucher vor zwei verschiedene Fensterausschnitte. Zunächst im Stehen ein Blick von oben aufs gründurchsetzte Häusermeer. Danach, im Sitzen, ist ein Stück Himmel ausgeschnitten, sonnenblau mit Leuchtwolken. Ein simpler Perspektivwechsel, ein einfacher Rahmen – Bilder von nahezu atemberaubender, vom Wetterzufall mitgeschenkter Schönheit. Dazu ist ein Soundteppich aus Stadtgeräuschen arrangiert.

Unbewusst liefert der sechs Etagen tiefer wohnende Amerika-Fan, der mit seiner Gang „im positiven Sinne“ Lieder gegen Gewalt singt, die Philosophie dazu. Kunst kann so auch ein kaputtes Straßenschild an einem einsamen Weg sein. Ein bisschen schade ist aber schon, dass wir auch ihn in seiner abgedunkelten, mit Stars, Stripes & Co. überfrachteten und von Gesine Danckwart betreuten Wohnung wiederum nur in der Videoprojektion erleben dürfen.

Umso wohler fühlt man sich im „Häkel-Mäkel-Club“, wo man zwischen immerfort häkelnden Türkinnen im Wohnzimmer Tee trinken und Sesamkringel essen darf, während das Art Critics Orchestra über Feminismus musiziert. Die nach uns kommende Gruppe klingelt viel zu früh, hier bliebe man gern länger – einer der vielen netten Nebeneffekte.

„X Wohnungen Neukölln“. Idee und Konzept: Matthias Lilienthal. Dramaturgie: Dunja Funke, Christoph Gurk, 5. bis 8. Juni