Weit aufgerissene Augen

Angst und Paranoia – das sind die Gespenster, die Stefan Pucher in seiner Inszenierung von Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ an die Wände des Maxim Gorki Theaters zu nageln versucht. Und deutlich grüßt der Überwachungsstaat

Das Maxim-Gorki-Theater und die taz haben zwanzig Studenten eingeladen, an einem Wettbewerb teilzunehmen: Wer schreibt die packendste Kritik zu Stefan Puchers Inszenierung von „M – eine Stadt sucht einen Mörder“? Leicht war das nicht, denn Puchers mit diskursiven Anschlussstellen durchschossene Ästhetik auf den Punkt zu bringen, verlangt viel. Wir danken allen Teilnehmern für ihr Engagement und die Leidenschaft, mit der sie Argumente gesucht und sich ans Werk gemacht haben. Die nebenstehende Kritik von Daniela Saleth ist unsere Favoritin. kbm

VON DANIELA SALETH

Es war eine düstere Zeit damals um 1930, als Fritz Lang sich gemeinsam mit seiner Ehefrau Thea von Harbou dazu entschloss, das Drehbuch für „M“ zu schreiben. Der Erste Weltkrieg lag noch nicht lange zurück, der Nationalsozialismus hatte starken Zulauf. Unsicherheit und Zynismus herrschten vor. Die Meldungen über ominöse Kindermorde in der Presse und die Aufforderung, bei der Fahndung nach dem Täter zu helfen, taten letztendlich ihr Übriges: Eine Massenhysterie brach aus und der eigentliche Nährboden für Fritz Langs Meisterwerk war gelegt: Auf diesen Stoff greift der Regisseur Stefan Pucher am Maxim Gorki Theater zurück.

Satirisch spiegelt der Film das Phänomen der allgemeinen Paranoia wider, in der ein netter, alter Herr einem kleinen Mädchen die Uhrzeit nicht mehr sagen darf, ohne dafür von einem wütenden Mob angegriffen zu werden. Als dann der Mörder in Gestalt des Schauspielers Peter Lorre auf der Leinwand erscheint, steht die Welt plötzlich Kopf: Kindsäugig und rundbackig, in gepflegtem Anzug und mit gequältem Blick in den Augen wandelt „die Bestie“ verloren und gehetzt durch die Straßen der Großstadt. Von Polizei und Bevölkerung gejagt und schließlich selbst vor ein Tribunal aus Verbrechern und Bettlern gestellt, muss er sich seinen eigenen Dämonen stellen. Sein Todesurteil wird beschlossen. Und der Zuschauer kommt, damals im Film wie auch heute im Theater, bei dieser plötzlichen Wendung nicht darum herum, sich zu fragen: Werden Mörder und Verbrecher wirklich schon böse geboren oder ist es die Gesellschaft, die sie zu dem macht, was sie sind?

Zeitsprung ins Jahr 2008: Die Schauspieler Peter Moltzen und Daniel Lommatzsch stehen am Bühnenrand, mit stechendem Blick und streng nach hinten gekämmtem Haar. Unbarmherzig halten sie eine Videokamera auf das Publikum gerichtet. Sie personifizieren den Polizeikorpus, während rechts von ihnen Michaela Steiger in der Rolle einer Ministerin mit Tendenzen zum Thea-von-Harbou-Verschnitt im goldenen Abendkleid auf samtenen Kissen liegt. In Obduktionsmanier erzählt sie von brutalen Übergriffen auf ermordete Kinder, während hinter ihr in Großaufnahme die gefilmten Gesichter aus dem Publikum auf der Leinwand prangern. „Er ist mitten unter uns, und jeder, der neben dir sitzt, kann der Mörder sein“, hallen ihre Worte nach.

„Eine Apparatur müsste man haben, mit der man den Leuten in die Köpfe schauen kann. Und dann alle Scheißgehirne aussortieren und in Lager abtransportieren!“ Mit solchen Sätzen leuchtet Steiger das Thema der Angst und des Kontrollwahns aus und zieht seine Verlängerung in die Gegenwart. „Und erst der dunkelhäutige, alte Typ mit dem langen Bart bis zur Po-Spalte, der seinen Joghurt im Flugzeug mit einer Gabel aß!“, so ergänzen Moltzen und Lommatzsch in Stand-up-Comedy-Stil das Panorama der Paranoia.

Als dann die Leinwand hochgeht und Peter Kurth in der Rolle des unseligen Mörders erstmals selbst die Bühne betritt, verschwinden gemeinsam mit ihm die satirischen Einlagen des Stücks. Im Videoformat konnte man ihn und auch die imposante Stadtkulisse, die nun hinter ihm thront, bereits zuvor schon sehen. Nun drehen sich die kargen, menschenhohen Häuser vor den Augen der Zuschauer und begleiten den verzweifelten Monolog des Gehetzten. „Ich kann nicht! Muss! Wer weiß denn schon, wie es in mir aussieht, hier drinnen?! Elsie!“, schreit er den Namen seines letzten Opfers. Wie auch im Film, zieht sich die Unheil verkündende Melodie aus Griegs Werk „Peer Gynt“ einem roten Faden gleich durch die gesamte Handlung des Stücks. Auch Peter Lorres markantes Gesicht erscheint immer wieder auf der Bühne, in kindlichem Staunen erstarrt, mit weit geöffneten Augen und o-Mund.

Das Ende des Stücks nach knapp eineinhalb Stunden ist ebenso wenig zufriedenstellend wie damals schon seine Vorlage. Fritz Lang darf es in einer weiteren eingespielten Sequenz, die einem Interview kurz vor seinem Tode entnommen wurde, noch kommentieren, dann ist es aus und vorbei mit dem Kindermörder. Und heute, wie schon damals, stehen Fragen offen im Raum.

Wo fängt der Wahnsinn an und wo hört die Moral auf? Sind die eigentlichen Täter nicht Obrigkeiten wie durch „Big Sister“ Steiger dargestellt? Damals, nach der Prämiere zu „M“ 1931 wurden die Kindermorde aufgeklärt und der „Düsseldorfer Vampir“ Peter Kürten wurde hingerichtet, die Weimarer Republik ging zu Ende und Goebbels interpretierte Langs Werk eigennützig als einen Aufruf zur Todesstrafe. Bleibt also zu hoffen, dass Pucher mit seiner Mission gegen das Aufhetzen der Massen und das Verfolgen eines neuen Gespenstes mit Turban und Bart mehr Erfolg hat als Fritz Lang vor über siebzig Jahren.

Wieder im Gorki-Theater: 12. bis 16., 23., 24., 27., 30. Juni