Intellektueller Tod

Das undogmatische Medium wird eingestellt! Schade, aber es ist auch ersetzbar – man muss es nur neu erfinden

Noch vor wenigen Jahren wäre die Nachricht, dass das Kursbuch eingestellt wird, im Rahmen einer Untergangsgeschichte erörtert worden. Wieder ein Platz für Debatten weniger! Wieder ein Zeichen dafür, dass Intellekt in unserer Marktgesellschaft nichts mehr gilt!

Das macht man jetzt eher nicht mehr. Aufgerufen werden stattdessen Rahmenerzählungen, die von Übergängen, Umbauten und dem medialen Strukturwandel handeln. Held dieser neuen Erzählungen ist das Internet mit seinen Blogs, Sites und Kommentarmöglichkeiten; und tatsächlich kommen einem ja eine Vielzahl der Anregungen und Ideen, die einem täglich zu denken geben, längst wie selbstverständlich via Computerbildschirm zugeflogen. Es gibt darüber hinaus natürlich noch das Feuilleton, das auch grundsätzliche Lebensfragen längst so fröhlich debattiert, wie es zu den großen Kursbuch-Zeiten nur den Monatsschriften vorbehalten war. Und es gibt eine unübersehbar gewordene Sachbuchproduktion, in der die Debattenlage dieser Republik zielgruppengerecht auf den unterschiedlichsten intellektuellen Niveaus umgewälzt wird. Wenn man die zuletzt breit geführten Debatten einmal Revue passieren lässt, wird man feststellen, dass sie sich oft um den Nukleus eines solchen Sachbuches gruppierten. Junge Frauen erzählen von ihrer Einstellung zu Berufsalltag, Beziehungshintergründen und Feminismus: Schon geht das Spiel aus Popanzbildung, Beleidigtsein und Abgrenzung los, das man offenbar mittlerweile Debatte nennt. Und an den vielfältigen 68er-Erinnerungen dieses Jahres kann man seine jeweils eigene Perspektive herrlich bestätigt oder herausgefordert finden.

In die Krise gekommen ist also keineswegs die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Fragestellungen in Debatten zu erörtern. In die Krise gekommen ist vielmehr die Möglichkeit einer allseits gültigen Zentralperspektive: Keine Publikation, in welchem Medium sie auch immer publiziert wird, wird jemals wieder so ein intellektuelles Zentralorgan werden, wie das Kursbuch es zu seinen Hochzeiten war.

Das muss man auch gar nicht bedauern, im Gegenteil: Diskursiv stark hierarchisierte Zeiten sind nicht unbedingt solche, in denen das Leben Spaß bringt. Aber die Flinte ins Korn werfen sollte man auch nicht: Es besteht immer noch Bedarf für essayistisch angelegte, hintergründige Zeitschriften. Der gelassene Austausch von Argumenten, sorgfältige Erkundungen in aktuellen Lebenswelten, das Ausprobieren neuer Sichtweisen, redliche Versuche, die eigenen Erfahrungen zum Sprechen zu bringen und auf ihre Konstruktionsprinzipien abzuklopfen – zur Not muss man solche Dienstleistungen als Nischenprodukte anbieten. Aber eine Zielgruppe finden sie bestimmt! Man sollte eben nur intellektuelle Perspektiven nicht mehr mit gesamtgesellschaftlichen Perspektiven verwechseln.

Das Kursbuch ist tot? Es lebe das Kursbuch! Wie auch immer es in Zukunft aussehen mag.

DIRK KNIPPHALS