„Das kreative Chaos ist zurück auf dem Rasen“

Fußballkolumnist Tanil Bora glaubt, weitere EM-Erfolge der türkischen Mannschaft würden den Nationalismus in der Heimat zähmen

TANIL BORO, 45, ist Chefredakteur der linken Theoriezeitschrift Toplum ve Bilim und Fußballkolumnist der linksliberalen Radikal

taz: Die Türkei im Viertelfinale – ein unerwarteter Erfolg?

Tanil Bora: Die Regel dieses Turniers scheint zu sein: Die türkische Mannschaft erwacht immer in der zweiten Halbzeit zu neuem Leben. Das bringt sogar Schwung in das gesamte Turnier. Das kreative Chaos, eine Charakteristik des türkischen Fußballs seit Mitte der 1990er-Jahre, ist zurück auf dem Rasen.

Es herrscht politische Eiszeit zwischen der Türkei und Europa. Wird der Fußball das verändern?

Seit 15 Jahren schreien sich die türkischen Fans bei jedem Spiel mit europäischen Mannschaften heiser: „Avrupa, Avrupa, wir kommen mit! / Horch doch mal auf unseren Schritt!“ Diese halboffizielle Hymne ist heute seltener zu hören. Der Erfolg im Fußball spielt im türkischen Nationalismus eine ambivalente Rolle. Wenn er anhält, dann wirkt er zähmend, denn er schafft neues Selbstvertrauen. Das hängt aber auch von der jeweiligen politischen Konjunktur ab. Bei der WM 2002 war die Kurdenfrage etwas eingeschlafen, in den Beziehungen zur EU kriselte es nicht, da feierte man den dritten Platz ohne jede Aggression.

Und wie ist es heute?

Etwas unübersichtlicher. Aufgebauschte Reden über den Stolz, Türke zu sein, das übliche Flaggenmeer – das alles ist schon da. Die Werbespots im türkischen Fernsehen strotzen seit Wochen vor Nationalstolz und riechen nach Gewalt. Andererseits entspannt der Erfolg. Die Spieler weichen provokativen Fragen der Reporter aus, sie treten fairer auf als früher. Es gibt beides: Sowohl die nationalistischen Reaktionen als auch besonnenes Reflektieren. Warum hat zum Beispiel in der Schweizer Mannschaft der türkischstämmige Eren Derdiyok die erste gelbe Karte gekriegt?

Ist doch klar: Die Schiedsrichter sind immer gegen uns!

Ja, genauso hätten die Fans früher durch die Bank geantwortet. Heute gibt es durchaus Gegenstimmen. Der Mannschaftskapitän Nihat spricht von „den Menschen, die uns in der Türkei zuschauen“, anstatt wie immer von „den Türken“. Das nehme ich als ein Zeichen der gegenwärtigen Ambivalenz wichtig.

Eindeutig hingegen der Fausthieb des türkischen Torwarts Volkan gegen den Tschechen Koller – gibt es Fans, die Volkan trotzdem verteidigen?

Die Kommentatoren haben das einstimmig verurteilt. Der ehemalige Starspieler Ridvan Dilmen etwa schrie: „Volkan, nein! Junge, man macht so etwas nicht!“ Nur der Nationaltrainer Fatih Terim kratzte an der Fairness, indem er fragte, „warum wir so etwas nicht unbemerkt hinkriegen“.

Die türkischen Fans feiern überall in europäischen Städten ausgelassen ihren Erfolg. Wie kommt das zu Hause an?

Eine interessante Gegenfrage wäre: Was würde man machen, wenn zum Beispiel portugiesische Fans mitten in Istanbul massenhaft mit ihren Nationalflaggen auftreten und ihren Sieg gegen die Türken feiern würden? Da lächelt natürlich jeder türkische Kommentator müde und räumt ein, dass das unvorstellbar ist. Aber das ist doch überhaupt die Essenz internationaler Turniere! Die Fanmeilen-Kultur macht nicht nur Spaß, sondern sie erzieht uns auch alle zum Mitfühlen.

Kurzum, die EM ist also schon jetzt ein Erfolg?

Die türkische Mannschaft wird mittlerweile ernst genommen und als ein interessantes Mitglied des europäischen Fußballs gesehen. Türkische Spieler finden im internationalen Transfergeschäft größere Beachtung. Ich hoffe, das wird sich auf den türkischen Fußball und die Gefühlswelt der Fans positiv auswirken.

INTERVIEW: DILEK ZAPTCIOGLU