Der obsessive Büchnerpreisträger

Die Deutsche Akademie für Sprache in Dichtung ähnelt, wie auch das Stockholmer Nobelpreiskomitee, einer Wundertüte – man darf nie ganz sicher sein, wer herausgezogen und gewürdigt wird. Wobei die Darmstädter Akademie, die mit dem mit 40.000 Euro dotierten Büchnerpreis die wichtigste Literatur-Auszeichnung im deutschsprachigen Raum vergibt, noch als vergleichsweise berechenbar gelten darf. Und doch: Mit dem 1953 in Kärnten geborenen Josef Winkler hatte kaum jemand gerechnet – obwohl zuletzt viele Namen in der Gerüchteküche umherschwirrten; nicht zuletzt deshalb, weil die Akademie sich mit der Verkündung ihrer Wahl außergewöhnlich lange Zeit ließ.

Winkler, so viel steht fest, ist kein Konsenskandidat. Zu getrieben, zu obsessiv sind seine Texte, zu eng ist die Welt, der sie entspringen. Eleganz oder gar Behaglichkeit klingt anders, was nicht bedeutet, dass Winklers Prosa sich nicht durch ein Höchstmaß an Kunstfertigkeit auszeichnete. Sein Thema ist seine Herkunft. Winkler wuchs als Jüngster von sechs Geschwistern in einer patriarchalisch-konservativen Bauernfamilie auf. In der Begründung der Jury heißt es, er habe „auf die Katastrophen seiner katholischen Dorfkindheit mit Büchern reagiert, deren obsessive Dringlichkeit einzigartig ist“.

Die Provinz und der Tod, der Katholizismus und die Repression, der Vater und die immer wieder scheiternde Emanzipation von dieser übermächtigen Figur – das sind die Topoi, um die Winklers Schreiben kreist, in sorgsam instrumentierten Satzkaskaden, in denen das Stilmittel der Wiederholung geradezu musikalisch eingesetzt wird. Ein in diesem Zusammenhang zentrales Werk veröffentlichte Winkler im vergangenen Jahr: Die Erzählung „Roppongi“ trägt den Untertitel „Requiem für einen Vater“.

Der Ich-Erzähler bekommt darin eines Tages den Anruf seines 98-jährigen Vaters, der ins Telefon brüllt: „Sepp! Was bist du denn für ein Schwein, ein richtiger Sauhund bist du!“ Und: „Wenn ich einmal nicht mehr bin, dann möchte ich nicht, dass du zu meinem Begräbnis kommst!“ Ein Jahr später ist es dann so weit. Zu diesem Zeitpunkt hält Winkler sich mit seiner Familie in Japan auf. In der österreichischen Botschaft in Tokio, im Stadtteil Roppongi gelegen, erreicht Winkler die Nachricht vom Tod des Patriarchen. Und er bleibt in Japan, fliegt nicht zurück, erfüllt dem Vater seinen, wenn auch in der Wut ausgesprochenen Wunsch und schreibt stattdessen später ebenjenes Buch.

Möglicherweise ist Josef Winkler der seit Thomas Bernhard österreichischste Österreicher in der deutschsprachigen Literatur. Dass die Deutsche Akademie ihn ehrt, spricht für sie. CHRISTOPH SCHRÖDER