bücher für randgruppen
: Wie Kunst der Folklore entkommt

Wer kritisiert eigentlich die Kunstkritiker? Mit der ökonomischen Krise der Zeitungen wurden auch deren Sessel zu Schleudersitzen. Doch von irgendetwas muss man ja schließlich leben. Da die moderne Kunst nun weniger vom Staat und ihren Institutionen, sondern vermehrt in Vorstandsetagen, Konzernen und Banken gesammelt wird, eröffneten sich neue Betätigungsfelder für das Schreiben über Kunst. Aber wer bleibt da noch unabhängig und – geht das überhaupt? Manche landen im sicheren Hafen der Akademie und versuchen von dort aus, Ordnung in die sich scheinbar ständig multiplizierende Vielfalt der modernen Kunst zu bringen. Andere vermitteln als Herausgeber populärer Nachschlage- und Aufklärungswerke den Überblick. Wie kann es sein, dass Künstler aus dem ehemals linken Milieu heute Bild illustrieren und dies als Subversion des elitären Kunstbetriebs von linken Medien bestätigt bekommen? Deutlich wird, dass kein Außerhalb der Affirmation des Mainstream mehr gedacht wird. Niemand kann den Kritikern für dieses Ineinsfallen von Subversion und Affirmation Absolution erteilen.

Eigentlich müssten die doch inzwischen im Größenwahn, in Widersprüchen oder Selbstzweifel zerbersten. Warum denkt die Kunstkritik fast ausschließlich in traditionellen Sehschemata und folgt nicht KünstlerInnen in ihrem Versuch, neue Blickperspektiven einzunehmen? Die beängstigende Vielfalt der Kunst, hinter deren Äußerlichkeiten bei genauerer Betrachtung sehr viel unsichtbare Einheit – um nicht zu sagen Einfalt – lauert, lässt sich gar nicht rückgängig machen. Das setzt der Autor Jörg Heiser in seinem Band „Plötzlich diese Übersicht“ erst einmal voraus. Er betont eingangs, dass es auch ihm nicht darum ginge, alles das, was an neuen Kunstmedien existiere, gegenüber dem „alten Malerei- und Skulpturenkrempel“ als innovativ hochzuhalten. Analytisch und amüsant zugleich seziert er ausgewählte Kunstwerke und Positionen, markiert dabei den Raum ihrer Spannungen und Eigenheiten. Sein roter Faden ist dabei der „Slapstick“.

Heiser positioniert sich dabei deutlich, wobei es nicht darauf ankommt, mit ihm immer einer Meinung zu sein. So lässt sich beispielsweise darüber streiten, ob Lukas Duwenhöggers kitschige Homoidyllen weniger die Frage nach privaten und öffentlichen Räumen aufwerfen als vielmehr homoerotische Klischees und Stereotype innerhalb der deutschen, auffällig heteronormativen Kunstszene reproduzieren. So werden sie zur Eintrittskarte in den Club. Gerade die hiesige Kunstwelt ergötzt sich schließlich nach wie vor an den höchst peinlichen Machoposen ihrer „Malerfürsten“, ergänzt um das pseudoverwirrte Muttersöhnchen.

Auch das weiß Heiser, deshalb lohnt die Lektüre schon wegen wunderbarer Sätze wie jener „mit den durch die Farbtöpfe geschleiften Hoden“. Klar und präzise zeigt er dagegen den Humor, die Ironie im Werk großer, ernster Meister wie John Cage und Bruce Nauman. So wird künstlerische Qualität jenseits aufgeblasenen Ernstes und platten Witzes sichtbar.

Heisers Tipp als Indikator für gute Kunst: Sie behält ein gesundes Misstrauen gegen die Schulen, die sie selbst bildet. So gelang es immerhin Duchamp und Schwitters, aus dem Dadaismus heraus Neues zu entwickeln und „der Folklore des ewigen Ulk-Routiniers zu entkommen“. Die Urmutter der Performance, Prä-Punk Valeska Gert, hat das zwar auch geschafft, bleibt aber trotzdem unsichtbar. Komisch. Das sollte unbedingt geändert werden. WOLFGANG MÜLLER

Jörg Heiser: „Plötzlich diese Übersicht“. Claassen Verlag, Berlin 2007, 368 Seiten, 22 Euro