„Europa ist sehr vergesslich“

Mercosur-Gipfel rügt die EU-Abschieberichtlinie. Von Sanktionen ist nicht mehr die Rede

BUENOS AIRES taz ■ Die Europäische Union ist glimpflich davongekommen. Zum Ende des Gipfeltreffens der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur verurteilten die südamerikanischen Staats- und Regierungschefs zwar die neue EU-Abschieberichtlinie, konkrete Maßnahmen oder gar Sanktionen gegen die EU beschlossen die anwesenden Staatsoberhäupter jedoch nicht.

„Wir sind die Länder, die die Europäer aufnahmen, als sie vor Hunger, Elend, Krieg und Diktatur auf der Flucht waren, und jetzt behandeln diese entwickelten Länder illegale Immigranten wie Kriminelle und Verbrecher“, sagte Carlos „Chacho“ Álvarez, Präsident des Komitees der ständigen Vertreter des Mercosur. „Europa ist sehr vergesslich.“ Vor dem Treffen hatte Kommissionspräsident Álvarez von Lateinamerika noch eine gemeinsame Strategie verlangt, „damit Europa diese Entscheidung zurücknimmt“. Die neue Abschieberichtlinie war Mitte Juni vom EU-Parlament gebilligt worden und sieht eine Abschiebehaft für illegale Migranten von bis zu 18 Monaten und ein anschließendes Einreiseverbot von bis zu fünf Jahren vor.

An Worten gegen die Richtlinie fehlte es beim zweitägigen Treffen der Präsidenten aus Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Venezuela, Chile und Bolivien in der argentinischen Provinzhauptstadt San Miguel de Tucumán jedoch nicht. Evo Morales, Boliviens erster indigener Präsident, sagte: „Früher haben sie uns gesagt, die Indios haben keine Seele. Ich frage sie, wo ist die Seele Europas?“ Venezuelas Staatschef Hugo Chávez nannte die Richtlinie den Versuch, eine „Mauer der Schande“ quer über den Atlantik hochzuziehen, und verglich sie mit dem Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko. Von einem möglichen Ölembargo gegen die EU wie noch vor wenigen Tagen sprach er nicht mehr.

In der gemeinsamen Abschlusserklärung heißt es: „Die Präsidenten weisen jeglichen Versuch einer Kriminalisierung der irregulären Migration und die Anwendung einer restriktiven Migrationspolitik zurück.“ Die neue Richtlinie der EU „steht nicht in Übereinstimmung mit dem Geist der humanitären Rechte und der internationalen Menschenrechte“.

Im Gegensatz dazu beschlossen die Präsidenten, das Reisen ohne Reisepass für ihre Bevölkerungen in wenigen Monaten auf die assoziierten Länder Ecuador, Peru und Kolumbien auszuweiten. Bisher genügte bereits ein Personalausweis, um sich innerhalb von Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Venezuela, Chile und Bolivien zu bewegen.

Keine Fortschritte brachte das Gipfeltreffen beim weiteren Ausbau der gemeinsamen Zollunion. Kritik gab es deshalb auch an der halbjährigen argentinischen Ratspräsidentschaft. Präsidentin Cristina Kirchner bläst wegen des seit über 100 Tagen andauernden Streits mit ihren Landwirten der Wind innenpolitisch derart ins Gesicht, dass ihr kaum Zeit blieb, sich zu kümmern.

Brasilien beschwerte sich über die verzögerten Exportlieferungen von Getreide. Und Uruguays Wirtschaftsminister Danilo Astori polterte, in Argentinien hieße es, „ohne das eigene Recht Exportsteuern festzulegen, gibt es keine gemeinsamen Zollbestimmungen. Wir beharren darauf, dass es ohne diese Bestimmungen keinen Mercosur gibt.“

Als Reaktion auf die steigenden Weltmarktpreise hatte die argentinische Regierung Mitte März ihre Exportsteuern unter anderem auf Sojabohnen erhöht. Seither laufen die Produzenten dagegen Sturm, was nicht nur den Export von Getreide und Hülsenfrüchten wochenlang zum Stillstand brachte, sondern auch intern zu Versorgungsengpässen bei den Grundnahrungsmitteln führte. JÜRGEN VOGT