Kommissar Hilflos

Sozialkommissar Vladimir Spidla will die Diskriminierung in Europa gern abbauen – doch weiß er nicht, wie

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Nehmen wir einmal an, eine staatlich geförderte religiöse Schule im Mitgliedsstaat X weigert sich, Schüler einer anderen Religionszugehörigkeit aufzunehmen. Verstößt sie damit gegen die am Dienstag von Brüssel vorgeschlagene neue Antidiskriminierungsrichtlinie? Oder würde es dem Schutz religiöser Minderheiten nach ebendieser Richtlinie widersprechen, wenn sie nicht ungestört in eigenen Bildungseinrichtungen lernen dürften? Muss die Schule einen Zugang für Rollstuhlfahrer bauen, Hörgeschädigte aufnehmen und das Unterrichtsmaterial in Blindenschrift zur Verfügung stellen?

Der für Sozialgesetzgebung zuständige tschechische Kommissar Vladimir Spidla hatte gestern auf all diese Fragen keine Antwort. Er meinte nur treuherzig, das hohe Schutzniveau in der Europäischen Union solle aufrechterhalten und an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts angepasst werden. „ ‚Zugang‘ und ‚Solidarität‘ sind die Schlüsselworte, damit jeder seine Chancen nutzen und bestmöglich einsetzen kann.“ Aus 19 Untersuchungen, Anregungen, Gesetzesvorschlägen und Mitteilungen setzt sich die jetzt vorgestellte „erneuerte Sozialagenda für das Europa des 21. Jahrhunderts“ zusammen. Für die kommenden Monate sind weitere 20 Dokumente angedroht.

Dass dadurch, wie es sich die Kommission wünscht, Europa beim Bürger einen sozialeren Anstrich bekommt, darf bezweifelt werden. Denn bei dem Versuch, Einfluss zu nehmen, ohne sich in nationale Kompetenzen einzumischen, kommt außer einem neuen Stapel Papier nicht viel heraus. Probleme gibt es zwar genug – schon mit der Umsetzung der bereits beschlossenen Antidiskriminierungsrichtlinien aus den Jahren 2000 und 2004. Denn die Lage der Minderheiten in einigen Mitgliedsstaaten hat sich keineswegs verbessert.

Bei der Pressekonferenz legten die Journalisten dem Kommissar gestern jede Menge Beispiele vor. Auf die Frage, ob der italienische Staat gezielt Fingerabdrücke von Roma speichern darf, antwortete Spidla: „Ich verfüge nicht über genügend Informationen, um diesen speziellen Fall beurteilen zu können. Eigentlich dürfte er auf Grundlage der jetzigen Rechtslage gar nicht eintreten. Alle Menschen sind gleich zu behandeln.“ Auch die Probleme vor der eigenen Haustür im Gastland Belgien behauptet Spidla nicht zu kennen. Er wurde gefragt, ob es rechtens sei, dass französische Kinder in flämischen Gemeinden von den Spielplätzen verbannt werden und französischsprachige Familien dort keine Wohnung mieten können. „Ich kenne die konkrete Situation nicht. Aber in der Richtlinie steht klipp und klar, dass es verboten wäre, Personen beim Zugang zum sozialen Wohnungsbau zu diskriminieren, egal aus welchem Grund.“

Auch wenn sie daran nicht so gern erinnert werden: Es waren die Staats- und Regierungschefs der damals 15 EU-Staaten, die einen umfassenden Antidiskriminierungsparagrafen in den EU-Vertrag schrieben. Die EU-Kommission solle Vorschläge machen, wie die „Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ bekämpft werden könne.

Unternehmerverbände befürchten zusätzliche Kosten und Rechtsunsicherheit, wenn vor Sozialgerichten geklärt werden muss, ob die Stellenanzeige „Junger dynamischer Mitarbeiter gesucht“ gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt. Versicherungen fragen sich, ob sie ihre Tarife weiterhin nach Alter und anderen Risiken staffeln dürfen. Gastronomiebetriebe rechnen im Geist die Kosten für die Rollstuhlrampe oder die Speisekarte in Blindenschrift aus.

Doch bis die Richtlinie ihre endgültige Form erhält und in nationales Recht übertragen werden muss, ist es noch ein weiter Weg. Die EU-Kommission verabschiedete gestern nur einen Gesetzesvorschlag. Um den Kritikern aus der Wirtschaftswelt den Wind aus den Segeln zu nehmen, schreibt er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sehr groß. Deutschland, das 2006 ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete, müsse seine Gesetzgebung überhaupt nicht ändern, glaubt ein Fachmann aus der EU-Kommission. Konsequenzen hätte die Richtlinie dagegen für Polen oder Tschechien, wo der Schutz vor Diskriminierung wegen sexueller Orientierung oder ethnischer Zugehörigkeit im Argen liegt. Die neuen Mitgliedsstaaten saßen noch nicht mit am Tisch, als der Artikel 13 in den EG-Vertrag hineingeschrieben wurde. Heute aber sind sie Mitglieder des Rates und können ein Antidiskriminierungsgesetz mit ihrem Veto verhindern.