Abitur in Afghanistan

NAME: Mariam Notten ALTER: 61 TAT: Gründerin einer Schule mit mittlerweile 2.000 SchülerInnen in Afghanistan, Unterstützerin einer Dokumentation von Kriegsverbrechen gegen Frauen KONTAKT: www.afghanistan-nimroz.de

Der taz-Panterpreis für besonderes soziales und politisches Engagement ist ein Projekt der taz-Panterstiftung. Er ist mit zweimal 5.000 Euro dotiert und wird 2008 zum vierten Mal verliehen. Einen der beiden Preise vergeben Sie, die Leserinnen und Leser der taz. Ab dem 19. Juli können Sie Ihre Nummer 1 wählen. Die Preisverleihung findet am 13. September im Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt. Das nächste Heldenporträt finden Sie kommenden Samstag in der taz. Informationen: www.taz.de/panter

Mit ein paar tausend Euro am Leib reiste Mariam Notten nach Nimroz und gründete eine Schule. Die taz-Panterkandidatin (5)

„Irgendwann war ich des Sprechens müde“, sagt die zierliche Frau mit dem roten Schimmer im schwarzen Haarschopf. Auf etlichen Demonstrationen hatte Mariam Notten durchs Megafon gerufen, sie hatte unzählige Interviews im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen gegeben – damals, im Herbst 2001, als Amerika begann, die Taliban zu bombardieren. Dann reichte es ihr mit den Reden. Sie begann zu handeln.

30 Jahre lang war Mariam Notten nicht mehr in ihrer Heimat gewesen, als sie im Jahr 2002 allein neben einem Kontrollhäuschen an der Grenze zwischen Iran und Afghanistan stand und auf eine staubige, von Panzerspuren zerfurchte Wüste blickte. An den Bauch gebunden trug sie ein paar tausend Euro, die sie bei Freunden und Bekannten in Berlin gesammelt hatte. Eine Schule sollte damit entstehen, so ihr Plan, schließlich hatten Mädchen in Afghanistan seit der Herrschaft der Taliban keine Chance mehr gehabt, lesen und schreiben zu lernen.

Die südwestliche Provinz Nimroz erschien Mariam Notten nach langen Gesprächen mit alten Weggefährten aus dem Widerstand als der geeignetste Ort für ihr Vorhaben: Die öde Region galt als das heiße Sibirien Afghanistans. Dorthin waren viele freiheitsliebende Regimekritiker verbannt worden, und für Frauen sah es in der Region nicht ganz so schwarz aus.

Lachend beschreibt die 61-Jährige ihr Selbstmitleid, als sie mit ihrem Koffer in der Geröllwüste wartete. Mariam Notten ist eine witzige Erzählerin, und wenn sie Orte, Menschen und Situationen schildert, entstehen sofort Bilder, Gerüche, Geräusche. Zwei Wochen hatte sie für ihre Reise eingeplant – nicht viel Zeit angesichts der Tatsache, dass sie niemanden in der Provinz persönlich kannte. In einer Siedlung am Rande der Provinzhauptstadt Sarandsch überzeugte sie sofort zwei Bewohner, ihr ein Grundstück für das Projekt zu schenken. Dann ging sie zum Gouverneur und nannte ihre Bedingungen: Kein einziger Cent darf für die Verwaltung des Geldes draufgehen, kein Cent als Schmiergeld gezahlt werden. Außerdem muss die Provinzregierung noch einmal ein Drittel des von ihr mitgebrachten Betrages drauflegen. Der Mann war einverstanden. Noch vor ihrer Abreise zeigte das Lokalfernsehen die Feier mit dem ersten Spatenstich: Jeder Zuschauer wusste nun, wie viel Geld für das Projekt zur Verfügung stand.

Seither fährt Mariam Notten jedes Jahr nach Nimroz. Inzwischen unterrichten 50 Lehrer etwa 2.000 Kinder im Dreischichtenbetrieb – Jungen und Mädchen, was in Afghanistan einmalig ist. Eine weitere Schule ist entstanden, ein Waisenhaus und zwei Frauenbäckereien. Auch Kleinkredite für Frauen, Alphabetisierungskurse in Kabul sowie Bücher für zwei Bibliotheken finanzierte ihr Verein in den vergangenen sechs Jahren. Nach der Heimkehr schickt Mariam Notten den Spendern jedes Mal ausführliche Berichte, die auch Rückschläge nicht verschweigen; das Porto und die Reisekosten zahlt sie aus dem eigenem Portemonnaie.

Bis vor Kurzem schien die Situation in Nimroz ruhig, doch in diesem Jahr hat es auch dort schon sieben Selbstmordanschläge gegeben. Erst vor zwei Wochen wurde der junge Mann getötet, der sie bei ihren Besuchen immer durch die Gegend gefahren hat. Auch seine Frau und sein kleines Kind kennt sie; Mariam Notten muss schlucken, wenn sie an die junge Familie denkt.

Mariam Notten kennt die Gefahr, die von Fundamentalisten und Kriegsverbrechern ausgeht. „Ohne Unterstützung kann man da nicht lange überleben.“ Deshalb steht Mariam Notten Menschen wie Malalai Joya finanziell bei, die als Parlamentsabgeordnete mutig die Drogenbarone und Warlords in der afghanischen Regierung angegriffen hat und sich nun dauernd verstecken muss. Auch ein junger Journalist, der über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan berichtet hat und danach fliehen musste, kann auf ihre Unterstützung bauen. Und für die Kosten einer Dokumentation von Kriegsverbrechen, die eine Frauenorganisation gesammelt hat, kommt Mariam Notten ebenfalls gerne auf.

Sie ist ein Mensch, der sich nicht abfinden kann. Doch wenn wie im letzten Jahr mehrere hundert Schulen von Taliban zerstört wurden, dann steht auch sie machtlos davor. Zum Glück ist so etwas in Nimroz noch nicht vorgekommen. Und neben all dem Elend gibt es auch Positives zu vermelden: 56 Mädchen aus ihrer Schule besuchen jetzt die Sekundarstufe und wollen Abitur machen. Und wenn Mariam Notten den taz-Panterpreis gewinnt, dann wird sie eine dritte Schule aufbauen. Den Standort hat sie schon ausgekundschaftet .

ANNETTE JENSEN