Freier Blick auf freie Säulen

Mit der Litfaßsäule trat vor gut 150 Jahren die Außenwerbung ihren Siegeszug an. Nun möchte ein Bürgerverein in Hamburg-St. Georg die Werbesäule in ihrem Stadtteil zur kommunalen Säule umgestalten. Das wäre ein historisches Ereignis, eine Zäsur, eine Korrektur der Geschichte, ja eine Revolution

Von MAXIMILIAN PROBST

Was ist schon dabei, könnte man sich fragen. Da soll im Hamburger Stadtteil St. Georg eine Litfaßsäule älterer Bauart gegen eine Litfaßsäule neuerer Bauart ausgetauscht werden. Nun ist die alte Säule den Bewohnern ans Herz gewachsen über die Jahre. Also soll sie bleiben. Aber wie sie erhalten? Man fasst die Idee einer „kommunalen Litfaßsäule“ und überlegt, wie sie zu nutzen wäre – wobei die Säule den Anwohnern freundlichst entgegenkommt, da sie zu den wenigen in Hamburg gehört, die auch begehbar ist, und damit auch für Miniausstellungen oder einen Kaffeeausschank offenstünde. Und wie man das so macht: Es gibt eine spektakuläre Verhüllungsaktion, die Presse, pflichtgemäß, kommt, sieht und geht, die Politik springt auch noch auf und so stehen die Chancen schließlich nicht schlecht, dass die Menschen in St. Georg „ihre“ – dann im Wortsinn – Litfaßsäule behalten werden.

Schön. Ist das alles? Ja. Das ist alles. Und es ist gewaltig, etwas völlig Neuartiges, nie Dagewesenes, Unerhörtes. Es ist eine regelrechte Revolution. Auch wenn sie auf den ersten Blick noch so unscheinbar daherkommt. Aber gemach.

Unscheinbar – und gerade das sollte zu denken geben– sind zu allererst die Litfaßsäulen selbst. Jeder kennt sie, kaum einer nimmt sie zur Kenntnis. Die Fragen, ob sie zurecht an dem Platz stehen, an dem sie stehen, und was es bedeutet, dass sie dort stehen: warum sollte man sich die stellen? Die Litfaßsäulen sind schließlich schon immer da, wie die Straßenschilder.

Das war mal anders. Als vor mehr als 150 Jahren die ersten Litfaßsäulen in Berlin aufgestellt wurden, empfanden sie viele Zeitgenossen als marktschreierisch und beklagten, dass sie die Sicht eingeschränkten. Verständlich: Denn vor der Litfaßsäule gab es, von Nasenschildern an den Läden einmal abgesehen, so gut wie keine Außenwerbung. Der Berliner Drucker Ernst Litfaß erfand diese Form der Werbung quasi mit seiner an Pariser und Londoner Vorbildern angelegten Säule.

Was es gab, war wildes Plakatieren an Zäunen und Hauswänden. Und um das einzudämmen, um legale, aber auch kontrollierbare Flächen zu schaffen, verlieh der Preußische Staat Litfaß das Monopol, Werbeträger aufzustellen. Das geschah 1855, nur wenige Jahre nach der gescheiterten Märzrevolution – weshalb die legale Außenwerbung mit dem Geburtsmakel behaftet ist, im Geiste der Zensur gezeugt worden zu sein.

Man weiß, wie die Geschichte weiterging: die Litfaßsäulen schossen wie Pilze aus dem städtischen Asphalt. Es folgten großflächige Plakatwände und heute stören wir uns nicht mal mehr daran, dass öffentliche Verkehrsmittel wie Busse oder Bahnen gerne im Dienst und Design von Coca-Cola oder Möbel Kraft unterwegs sind.

Dabei hatte der amerikanische Werbeguru und Kritiker Howard Gossage bereits 1960 zu bestimmen versucht, was die Außenwerbung so problematisch macht. In seinem wegweisenden Aufsatz „How to Lool at Billboards“, schrieb er, die Außenwerbung handele ohne Einwilligung mit einem Gut, das sie nicht besäße: dem Sichtfeld der Menschen.

Auch eine Zeitung enthält Werbungen. Aber die Zeitung muss erst erworben und gelesen werden. Das ist eine persönliche Entscheidung. Sich im öffentlichen Raum zu bewegen, ist keine Entscheidung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Weshalb man der Außenwerbung, anders als den anderen Werbeformen, auch nicht entgehen kann. Man ist ihr ausgeliefert, ob man will oder nicht. Kurz: Die Außenwerbung bedeutet eine Vergewaltigung der Willensfreiheit. Unweigerlich fällt der Mensch ihr zum Opfer. Denn wieder: Ob er will oder nicht, etwas von der Werbung bleibt immer an ihm hängen. Und sei es nur die Gewöhnung ans Gewordene, die Gewöhnung daran, das wir selbst im so genannten „Öffentlichen Raum“ Tritt um Tritt von Werbebotschaften umstellt sind.

Genau das hat man vielleicht noch nicht genügend bedacht: Außenwerbung ist, in allen ihren Formen, eine Intervention in den öffentlichen Raum, ein Angriff, ein Anschlag auf diese zivilisatorische Errungenschaft. Denn anders als das Plakat der Demonstranten, das in der Öffentlichkeit für eine öffentliche Sache spricht, etwa in der Frage: Atomkraft oder regenerative Energien, wendet sich die Werbung in der Öffentlichkeit ausschließlich an die Privatperson: Holsten oder Jever, Nivea oder Weleda, Camel oder West.

Oder sollten wir den Aufruf zum Konsum in der Öffentlichkeit als Hinweis nehmen, dass unsere Gesellschaft grundlegend auf Konsum basiert, dass der Konsum für das Funktionieren unserer Gesellschaft den selben, oder sogar einen höheren Status genießt als die Demokratie, für die ja nur periodisch, zu Wahlkampfzeiten Werbung im öffentlichen Raum gemacht wird? VW oder BMW. Und dann erst SPD oder CDU.

„Der Westen hat Werbung, wir haben Agitation und Propaganda.“ So hat es einmal Egon Krenz gesagt, auf den man sich wirklich nicht gern berufen will. Aber manchmal muss man unvermeidbar an dieses Diktum denken. In der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi etwa sind an vielen Straßenecken Lautsprecher aufgestellt. Ununterbrochen und unentgehbar dröhnen dort die Staatsnachrichten- und parolen heraus. Am Ende wird aber immer noch die eine Botschaft transportiert: Seid still und produziert schön. Und ist das so anders als die Botschaft der Werbung, dass man still sein soll und schön konsumieren? Natürlich hat man sich in Hanoi auch längst an die Lärmbelästigung gewöhnt, genauso wie hierzulande an die Sichtbelästigung. So dass es vielleicht gar nicht groß auffällt, wenn in naher Zukunft über die Lautsprecher nicht mehr das pseudosozialistische System seine Effizienz sondern Honda einen neuen Motorroller anpreist.

In Saigon fehlen übrigens die Lautsprecher in der Lärmkulisse. Wann immer die Staatsmacht sie aufstellen ließ: wenige Tage später lagen sie zersägt am Boden.

Von Litfaßsäulen hat man dergleichen noch nicht gehört. Aber der Fall der verhüllten Säule von St. Georg kommt dem Saigoner Akt des Widerstands doch recht nahe. Und in St. Georg wehrt man sich nicht nur gegen die Werbung, sondern widmet den Werbeträger im selben Zug um: zur kommunalen Litfaßsäule, zu einem schwarzen Brett der Bürger.

Wenn dies gelingt, dann hätte man das einzigartige Beispiel, wie eine Außenwerbungsfläche, also eine Fläche, auf der im öffentlichen Raum ans Private appelliert wird, tatsächlich zur öffentlichen Fläche mutiert, auf der es nurmehr um öffentliche Belange geht. Man hätte es mit der Konstituierung eines wahrhaft öffentlichen Raums zu tun– und es ist dort, im öffentlichen Raum, wo seit der griechischen Polis das Herz der Demokratie schlägt.

Ja, auch das gälte es zu bedenken: die Stadt war die Geburtswiege der Demokratie. Und das Wesensmerkmal einer Stadt ist, dass sich in ihren Mauern Privates und Öffentliches differenzieren: „Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto städtischer ist – soziologisch gesehen – das Leben einer Ansiedlung“, schrieb Hans-Paul Bahrdt in seinem Klassiker „Die moderne Großstadt“. Wobei anzumerken wäre, dass der Soziologe damit weniger die Stadt an sich als vielmehr den griechischen Stadtgedanken, die polis treffend beschreibt.

So erkennen wir heute gerade im Übermaß der Außenwerbung, die doch Öffentliches und Privates ineinander übergehen lässt, den städtischen Charakter einer Ansiedlung. Und die Litfaßsäulen hat man seit je als die Insignien des Städtischen, des Urbanen aufgefasst. Wie es aussieht, tendieren unsere Städte daher zum römischen Modell. Denn im antiken Rom war die Stadt (urbs) nicht mehr der Ort, an dem Öffentliches verhandelt, sondern an dem der Untertan mit panem et circenses abgespeist wurde. Und auf Brot und Spiele, nichts anderes, beläuft sich auch die Botschaft unserer Außenwerbung.

In St. Georg streitet ein verstreuter Haufen für eine kommunale Litfaßsäule, für eine Zweckentfremdung, die der erste Schritt wäre von der urbs zur polis, vom Urbanen zum Politischen. Als Symbol stünde die kommunale Litfaßsäule in biblischer Tradition: ein zum Pflugscharen umgeschmiedetes Schwert. Und als Fanal begriffen, riefe sie auf, Hand anzulegen: die Siegessäulen der Werbung in den Städten endlich umzustürzen. Voilà la révolution!