Tod in Venedig

Olfaktorisch surfen

Ganz still saß der Student auf seiner Bank am Urbanhafen. Der Sommertag war schwül, sein Jackett schien ihm gar zu eng. Er nahm kaum etwas wahr: Weder das marode Theaterschiff Tau – eine düstere Barkasse mit zerschlagenen Scheiben – die vor ihm auf dem Wasser schaukelte, noch fiel sein Blick auf die Knaben, die sich lasziv auf der Uferpromenade aalten. Tief hielt er den Kopf gesenkt, tief war er versunken in Thomas Manns „Der Tod in Venedig“. Gerade las er, wie Gustav Aschenbach, Protagonist der 1912er Meisternovelle, in den faul riechenden Lagunen am Lido di Venezia bereits „das Übel“ wittert. Die ersten Anzeichen der indischen Cholera, die ihn schließlich dahinraffen sollte: „Ein eigentümliches Arom, von dem ihm jetzt schien, als habe es schon seit Tagen, ohne ihm ins Bewusstsein zu dringen, seine Sinne berührt – ein süßlicher Geruch.“ Erschrocken fuhr der junge Mann von seiner Lektüre auf: Denn auch die Mülleimer neben ihm stanken ganz fürchterlich. Nach gärigen Bananenschalen, nach gewechselten Kinderwindeln – oder grassierte etwa die Cholera in Kreuzberg?

Und überhaupt, befand er sich in der italienischen Wasserstadt oder am Landwehrkanal? Panisch machte sich der Literaturfreund auf den Heimweg. Dabei fiel sein Blick auf die vor dem Vivantes-Krankenhaus sitzenden Rollstuhlfahrer. Und wieder verwischte die Grenze zwischen Realität und literarischer Welt: War es etwa Hans Castorp, der dort warm in Decken eingepackt seine Sommerfrische genoss? Aber nein, Castorps Sanatorium liegt ja nicht am italienischen Meer und schon gar nicht am Urbanhafen. Es liegt ganz woanders. Vielleicht auf dem Kreuzberg. Vielleicht aber auch auf dem Zauberberg. SASKIA VOGEL