nebensachen aus nairobi
: Visionen für eine berstende Metropole

Als ich in meiner frühen Jugend Nächte damit verbrachte, mit anderen Jungs um einen Tisch zu sitzen, zwanzigseitige Würfel zu schwingen, imaginäre Monster zu plätten und Abenteuer in einer Fantasiewelt namens Aventurien zu bestehen, war ein geflügelter Satz sehr verbreitet: Alles, was ich fürs Leben wissen muss, habe ich beim Rollenspiel gelernt. Im Fantasy-Rollenspiel, damals ohne Computer oder Internet, konnte man Probleme lösen, Intrigen spinnen und große Politik beeinflussen. Von den Elfen, Zwergen und Trollen abgesehen, ging das Spiel großzügig betrachtet als Trainingslager für das wirkliche Leben durch.

Jetzt gibt es in Nairobi keine Trolle, und in der Bewältigung von Alltagsproblemen lässt man auch ansonsten jede Fantasie vermissen. Doch das Terrain der Großstadt lässt manche Gegenden von Tolkiens Mittelerde recht erschlossen erscheinen. Die meisten Straßen, in den 40er- und 50er-Jahren für eine Bevölkerung von ein paar zehntausend Nairobianern gebaut, sind nicht nur wegen der sich scheinbar magisch vermehrenden Schlaglöcher kaum passierbar. Endlose Kolonnen historischer Lastwagen und neu angemeldeter Personenfahrzeuge – jeden Monat kommen tausende hinzu – lassen eine Fahrt ans andere Ende der 3,5-Millionen-Stadt schnell zu einer heldenhaften Odyssee werden, die einen ganzen Tag in Anspruch nimmt.

Die Buden von Händlern am Straßenrand, die einen bei einer solchen Tortur mit Proviant und einem Schwätzchen bei Laune halten könnten, werden nun wieder mit Bulldozern und Tränengas geräumt. Wer sich in die Slums verirrt, was auch Kenianer vermeiden, wenn sie nicht müssen, findet sich in einer Umgebung wieder, gegen die Mordor wie ein Touristenparadies anmuten muss. Hütten stehen eng an eng, Wasser und Strom gibt es nur dann, wenn man ihn sich unter Lebensgefahr aus einer Überlandleitung abzapft.

All das will Mutula Kilonzo ändern, der von Präsident Mwai Kibaki zu einer Art Frodo ernannt worden ist, der Nairobi retten soll. „Vision 2030“ nennt Kilonzo seinen Plan, der Nairobi in eine lebenswerte Metropole verwandeln soll. Als Vorbild gelten Lagos oder Johannesburg – wer schon mal in diesen Molochen auf Besuch war, reibt sich die Augen. Größere Busse und Kreuzungen statt Kreisverkehre verspricht der Minister, mehr Parkplätze und Müllhalden und auch eine bessere Wasserversorgung – außerhalb der Slums. Ideen und Plan sind alt: Grundlage der „Vision“ ist ein Bericht von 1973.

Hätte der Minister seine Jugend beim Rollenspiel verbracht, wäre ihm vermutlich Wegweisenderes eingefallen. Als ich kürzlich auf Heimatbesuch in meinem alten Spieleladen vorbeiging, fand ich im Regal einen neuen Quellenband des Sciencefiction-Rollenspiels „Shadowrun“ mit einem Kapitel über Nairobi im Jahr 2071. Von Kreuzungen und Bussen ist da keine Rede, stattdessen erschließt ein Magnetzug die Stadt, die von Privatmilizen globaler Konzerne gesichert wird. Nairobis derzeit winziger Flughafen ist in den größten Aerospaceport der Welt verwandelt worden, mit direkter Verbindung zum Kilimandscharo, auf dem sich eine Startrampe für Space Shuttles erhebt. Das nenne ich eine Vision – auch wenn die Slums im Jahr 2071 immer noch verfallen. Manche Dinge kann offenbar selbst eine Menge Fantasie nicht lösen.

MARC ENGELHARDT