Verse für Chor und Video

Mit den Dichtern der portugiesischsprachigen Welt führte das poesiefestival nach Afrika und Brasilien. Und bewies mit elektronisch unterstützter Lyrik die Emanzipation vom Buch

VON SASKIA VOGEL

Wer in der Akademie der Künste am Hanseatenweg einen Blick in den Garten warf, der konnte Naturlyrik live beobachten. Als sei das „Requiem“ der dänischen Autorin Inger Christensens zum Leben erwacht: „Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten, wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde.“

Die Grande Dame der dänischen Dichtung war Gast auf dem neunten poesiefestival der Literaturwerkstatt, das am Sonntag mit einem nächtlichen Schweizer Rap-Event zu Ende ging. Rap und Schmetterlinge – da ahnt man schon die große Bandbreite des Festivals. Im steifen Kostüm hatte die 73-Jährige Christensen bewiesen, dass nicht immer eine große Performance nötig ist, um Lyrik wirkungsvoll zu präsentieren. Manchmal reicht einfach die Suggestionskraft der Stimme.

Die meisten der 150 Künstler kamen aus der „portugiesischsprachigen Welt“, die den Schwerpunkt des Festivals stellte. Außer in Europa und Brasilien wird in fünf afrikanischen Ländern und Teilen Asiens die Sprache mit den vielen Nasallauten gesprochen, insgesamt sind es über 210 Millionen Menschen.

Einer von ihnen ist Kalaf Ângelo aus Angola. Groß, schlaksig und mit Pete-Doherty-Hut betrat der 30-Jährige die Bühne von „O mar de África“ und stimmte politische Verse an: Afrikas Potenzial solle jenseits der üblichen Klischees von Safaris und Katastrophen wahrgenommen werden, forderte der Spoken-Word-Künstler, der auch als Kolumnist in Lissabon arbeitet. Begleitet wurde er dabei vom Musiker Ndu, der mit Klangstäben Regenwasser-Sound zauberte.

Das Rauschen im Kopf

Wie die meisten Veranstaltungen wurde der Abend von einem theoretischen Gespräch flankiert. Der kulturelle Austausch zwischen den Kontinenten lässt sich optimieren, analysierte Armando Artur, einer der wichtigsten Literaturförderer Mosambiks. Obwohl vor allem Portugal Publikationen aus seinen ehemaligen Kolonien verlege, kämen afrikanische Autoren in Europa noch immer selten zu Wort. Die Literaturwerkstatt überlegt deshalb, das poesiefestival 2009 Afrika zu widmen.

Während das Podium diskutierte, stellten sich fünf Künstlerpaare aus der e.poesie-Werkstatt einer ganz anderen Herausforderung: der Verbindung von Lyrik mit elektronischen Sounds. Das surrealistische Stimmgewirr, dass der Tscheche Vít Zouhar mit seinem Laptop produzierte, vermittelte einen Eindruck vom vielstimmige Rauschen im Kopf Schizophreniekranker, zeitgleich flackerten Peter Waterhouse’ Verse „Ich blinzel und sehe mich Zweijährigen, Dreijährigen, Wievieljährigen“ an der Wand. Bei Antye Greie und Ann Cotton aus den USA konnte man sich unterdessen nicht immer sicher sein, ob das Rauschen aus den Boxen gewollt oder eine technische Störungen war. Eine genaue Definition von „e.poesie“ bleibt schwierig. „E.poesie ist wie alle avantgardistischen Lyrikpräsentationen ein ständiges Experimentierfeld“ so der Komponist Sidney Corbett.

Überhaupt bot das achttägige Festival einen guten Überblick über den facettenreichen Umgang mit Lyrik, die sich längst vom gedruckten Buch emanzipiert hat. Auf dem Zebra-Abend waren Poesie-Filme zu sehen, die hiesige Sprayerszene verwandelte triste Mauern in Lichtenberg in poetische Wandgemälde.

Den Lyrikerinnen Teresa Balté und Ana Paula Tavares gelang es gar, ein ganzes Stadtporträt von Lissabon vor dem inneren Auge der Zuhörer zu kreieren. Einzig dadurch, dass ihre Gedichte die Hektik, aber auch die Melancholie der Stadt vermittelten.

Und während die „Versschmuggel“-Dichter noch die Ergebnisse ihrer gegenseitigen Übersetzungsarbeit präsentierten, stimmte die Sing-Akademie bereits das Nachtprogramm an: Der Chor sang Verse von Augusto de Campos, dem berühmtesten Verfasser grafisch gestalteter „Konkreter Poesie“ aus Brasilien, die als Videoclip gleichzeitig im Hintergrund lief.

Auch Arnaldo Antunes ist als Exmitglied der legendären Rockband Titãs eine Berühmtheit in Brasilien. 14 Bücher hat er bisher rausgebracht, vor allem Gedichtbände. Noch Stunden vor seinem gemeinsamen Konzert mit Chico César saß der multitalentierte „Rebell der Künste“ entspannt rauchend im Garten seines Hotels, während Instrumentenkoffer das schmale Foyer verstopften. „Brasilien hat den Vorteil, dass es hier eine große Produktion von portugiesischsprachiger ‚Música Popular‘ gibt. Hier finden Lyriktexte Raum, die sich in Buchform eher schlecht verkaufen.“ Seine Show war eines der Highlights des Festivals und trotz Ticketpreisen von 28 Euro ausverkauft.

Seine Inspirationen bezieht der 48-Jährige vor allem aus der Modernismus-Bewegung der 1920er-Jahre. Deren Leitfigur war der „Menschenfresser“, der sich mündliche „Volksdichtung“ gleichsam wie „Hochkultur“ einverleibt, um anschließend ein originär brasilianisches Produkt wieder auszuspeien. Von strikter Trennung der einzelnen Kunstgattungen hält Antunes wenig: „Poesie kann sich am besten dann entfalten, wenn sie sichtbar, hörbar und fühlbar wird. Genau wie das Wesen des Brasilianers ist sie nicht klassifizierbar.“