WARUM BELGIEN DER ERFOLGREICHSTE „FAILED STATE“ ALLER ZEITEN IST
: Dame ohne Unterleib

Der Staat Belgien erinnert an eine Dame ohne Unterleib: Eine derartige Erscheinung ist eigentlich gar nicht möglich. Wie kann es ein Land geben, das nun schon seit 13 Monaten ohne funktionsfähige Regierung auskommt? Und zwar gar nicht so schlecht? Ökonomisch gesehen ist Belgien der wohl erfolgreichste „failed state“ aller Zeiten. Beim Pro-Kopf-Einkommen liegt das Land sogar vor dem Exportweltmeister Deutschland – und das, obwohl der arme Landesteil Wallonien noch immer gern mit der DDR verglichen wird.

Wenn Belgien auch ohne Nationalregierung gedeiht, so aus dem schlichten Grund, dass das Kabinett sowieso nur noch wenig zu entscheiden hat. Längst wurden die meisten Befugnisse in die Regionen verlagert oder den Sprachgemeinschaften zugewiesen. Bei der Zentralregierung verblieben vor allem die Außenpolitik, die Verteidigung und die Finanzpolitik – sämtlich Themen, die zunehmend auf EU-Ebene geregelt werden.

Angesichts dieser weitgehenden Machtlosigkeit ihrer Regierung sagen viele Belgier denn auch spöttisch, sie würden die „EU der Regionen“ schon einmal vorwegnehmen. Über eine Kernkompetenz verfügt die belgische Zentralregierung allerdings noch: Sie ist für die Sozialversicherung zuständig. Und hier entzündet sich denn auch prompt der Streit zwischen den Sprachgruppen, weil die reicheren Flamen gern weniger für die ärmeren Wallonen zahlen würden.

Letztlich sind es aber gar nicht diese materiellen Interessen, die die Belgier entzweien. Denn der zentrale Konflikt entbrennt rund um den Wahlbezirk „Brüssel, Halle, Vilvoorde“. Worum es dort genau geht, ist Nichtbelgiern nicht zu erklären – da sind sich ausnahmsweise alle Belgier einig. An der Oberfläche wird um eine Wahlrechtsreform gestritten. Doch tatsächlich werden tiefe Ängste verhandelt: Beide Sprachgruppen werfen sich gegenseitig vor, die jeweils andere zu unterdrücken.

Bisher ist eine Lösung nicht in Sicht. Aber zum belgischen Paradox gehört, dass es irgendwann wieder einen weiteren Kompromiss geben dürfte. Noch ist Belgien nicht verloren. ULRIKE HERRMANN