Literatur frei Haus

Eine Villa im vornehmen Hamburger Stadtteil Uhlenhorst beherbergt die Norddeutsche Blindenhörbücherei. Seit 50 Jahren werden dort Bücher vertont – alle drei bis vier Tage ein neues

VON KRISTINA GERSTENMAIER

Von außen ist das Jugendstil-Gebäude stattlich, von innen verstuckt. Nichts deutet auf die rege Produktivität hin, die in den Räumen der „Norddeutschen Blindenhörbücherei“ herrscht. Dabei werden in der Doppelhaus-Villa im vornehmen Hamburger Stadtteil Uhlenhorst jährlich ungefähr 100 neue Buchtitel vertont: alle drei bis vier Tage ein Buch. Im Keller sitzt gerade Susanna Clasen in einer doppelt-verglasten, schallgeschützten Kabine. Die 46-Jährige liest „Muschelseide“ von Frederica de Cesco, auf dem Tisch vor ihr steht ein Radio-Mikrofon.

Die ausgebildete Schauspielerin und Sängerin ist eine von 15 SprecherInnen, die den Blinden ihre Stimme leihen. „Das Gefühl für Blinde vorzulesen ist wunderschön“, sagt Clasen, die ihre tiefe, rauchige Stimme zuerst bei Beate Uhse eingesetzt hat, bevor sie ihre ersten Theaterauftritte hatte. Gelesen werden vor allem Bücher aus der Sparte der Unterhaltungsliteratur.

Lange bevor das Hörbuch in den letzten Jahren seinen Siegeszug bei den Sehenden antrat, gab es die Literatur zum Hören für Blinde und Sehbehinderte. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten sich Blindenvereine in ganz Deutschland daran, die etwa 7.000 Kriegsblinden mit Literatur zu versorgen. Seit den 1950er Jahren gibt es Einrichtungen, die sich ausschließlich dem Lesen mit den Ohren widmen und blinden Menschen ein reiches Sortiment an Hörliteratur zur Verfügung stellen. Die Norddeutsche Blindenhörbücherei in Hamburg ist eine davon. 1958 wurde sie von Blindenvereinen gegründet und produziert seitdem vom Klappentext bis zum Nachwort vollständig gelesene Werke, was den größten Unterschied zu den Hörbüchern der Verlage darstellt. Dort werden Bücher gekürzter Fassung angeboten.

In den Regalfluchten in Keller und Obergeschoss der Villa stehen derzeit 12.500 Hörbuch-Titel, von denen es jeweils mehrere Exemplare gibt. Die langen Reihen mit den ungefähr 40.000 CD- und Kassetten-Boxen sind nach einem komplizierten System geordnet. Mitarbeiter suchen das bestellte Hörbuch und stecken es in einen Umschlag. Seit Gründung der Blindenbibliothek besteht ein Abkommen mit der Post, die sich bereit erklärt hat, Blindenlieferungen umsonst zu befördern, wenn es sein muss, sogar ins Ausland. Aus dem Katalog, den es im Internet, als Druckausgabe oder auch zum Anhören gibt, wird ein Titel ausgesucht und telefonisch durchgegeben. „Oft wissen die Leute nicht so recht, was sie wollen“, sagt Bücherei-Geschäftsführerin Elke Dittmer, „dann suchen wir ihnen irgendwas schönes aus.“

„Zugangsberechtigung“ zur Hamburger Hörbücherei haben alle, die eine Blindheit oder Sehbehinderung nachweisen können. Derzeit sind es 4.500 Menschen, was verhältnismäßig wenig ist. „Es ist unheimlich schwer, die Leute zu erreichen“, sagt Dittmer. Wenn ältere Menschen erblinden, sei es ihnen oft unangenehm, sich ihre Blindheit einzugestehen. Außerdem müssten sie auf das Angebot explizit hingewiesen werden. „Der Begriff Barrierefreiheit müsste einmal neu diskutiert werden.“

Die Nutzer der Hörbücherei wollen diese nicht mehr missen. So wie der 86-jährige Walter Korn (Name geändert), der sein Augenlicht und seine rechte Hand bei einem Laborunfall verloren hat. In einem Dankesbrief an die Bücherei schreibt er: „Wenn ich mich recht erinnere, stand ich schon 1958 in ihrem Hörerverzeichnis, versorgt mit den dunklen Kästen, die mir viele (Nacht-)Stunden zum Tage machten.“ Der Brief schließt mit den Worten: „Nebst Gott im Himmel danke ich meiner Hörbücherei bis an mein selig Ende.“

Die meisten Nutzer der Norddeutschen Blindenhörbücherei sind zwischen 80 und 90 Jahre alt. Für jüngere Generationen ist das Hörbuch allerdings selten der einzige Zugang zu Literatur. Die 36-jährige Ivonne Lotze, die nebenan in der Punktschrift-Bücherei arbeitet, ist schon von Geburt an blind. Sie liest sehr gerne die Braille-Schrift, in den Urlaub aber nimmt sie lieber Hörbücher mit, „weil sie handlicher sind und es eine größere Auswahl gibt“. Ihrer Meinung nach ersetzen Hörbücher die Punktschriftbücher nicht. „Es ist wichtig weiter mit den Händen zu lesen.“ Hörbücher seien „einfach eine andere Form des Lesens“.

In dem halben Jahrhundert ihres Bestehens durchlebte die Hörbücherei viele Veränderungen. Immer ging sie mit der fortschreitenden Technologie: Das Tonband wurde zur Kassette, die Kassette zur CD. Seit einigen Jahren produziert die Norddeutsche Blindenhörbücherei die so genannten Daisy-Bücher. Daisy steht für Digital Accesible Information System, so heißt der weltweite Standard für navigierbare Multimedia-Dokumente. Die auf CDs gesprochenen Bücher werden dabei im MP3-Format komprimiert, so dass ein komplettes Buch auf eine CD passt. Ein eigens für Blinde entwickeltes Abspielgerät macht es möglich, die CD fast so zu navigieren, als hielte man ein echtes Buch in den Händen. Elke Dittmer, Anfang 40, Bürstenhaarschnitt, könnte stundenlang über Daisy reden. „Daisy ist die Inovation schlechthin,“ sagt sie. Das System macht es möglich, Titel und Autor anzusteuern, das Inhaltsverzeichnis, einzelne Kapitel oder auch den Klappentext. Wechselt man die CD, merkt sich das Gerät die Stelle und steigt beim nächsten Mal genau dort wieder ein. Es können sogar Absätze wiederholt werden.

Werden Internet-Plattformen wie www.vorleser.de oder www.audible.de, auf denen man eine große Auswahl von Hörbüchern kostenlos herunterladen kann, die Bibliothek überflüssig machen? Was ist mit Apparaten wie dem Lesegerät, in das man nur ein Buch stecken muss, um es sich vorlesen zu lassen? Was ist mit den automatischen Vorlesefunktionen, die online verfügbar sind?

Elke Dittmer winkt ab. Immer sei irgendwas neues gekommen und immer habe es geheißen‚ „das ist das Aus“. Dittmer glaubt, das es immer einen Bedarf an Hörbüchern geben wird, allein schon wegen der steigenden Zahl alter Menschen. „Die Aufgabe der Hörbücherei ist es, gedruckte Informationen jedem zugänglich zu machen“, sagt Dittmer. „Und erst in dem Moment, in dem das so ist, wird es uns nicht mehr geben.“