Rausgeholt

VON SEBASTIAN KEMNITZER

Mitte der Woche war es wieder so weit. Da entdeckte die Polizei in einer verdreckten Wohnung in Bremen ein fünf- und ein achtjähriges Mädchen. Die Zimmer voller Kot und Müll, die 43-jährige Mutter verwirrt. Tags darauf beantragte das Amt, ihr das Sorgerecht zu entziehen.

Es ist nur ein Fall von tausenden. In den beiden vergangenen Jahren haben Jugendämter und Gerichte so tief wie nie in das Recht der Familie eingegriffen. In fast 11.000 Fällen mussten Eltern allein im Jahr 2007 ihr Sorgerecht abgeben – fast ein Viertel mehr Fälle als 2005. In 435 Fällen kam es zu sogenannten Herausnahmen. Das heißt, dass Ämter den Eltern Kinder gegen ihren Willen wegnahmen. So lauteten am Freitag die neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Sie spiegeln die Nervosität der Behörden wider nach den Kindsmorden durch Unterlassung, wie sie in Bremen und Schwerin geschahen.

Die Bundesrepublik steht auch vor einem bürokratischen Probelm. Über Jahre waren die zuständigen Stellen Objekt von Mittelkürzungen. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik in Dortmund hat bis 2006 einen Rückgang an Personal und Finanzen festgestellt. Und der Jugendhilfeexperte Roland Sehrenbacher von der Caritas bemängelt: „Es wurde Geld aus dem System genommen und gleichzeitig Personal abgebaut.“

Doch die neuen Zahlen der Wegnahmen und Inobhutnahmen – dabei stimmen die Eltern zu, dass ihre Kinder ins Heim kommen – werden höhere Kosten nach sich ziehen. In den nächsten Jahren würden die Kommunen wieder mehr Geld aufbringen müssen, prognostiziert Mike Seckinger vom Deutschen Jugendinstitut in München. „Das Freihalten von Plätzen für Inobhutnahme kostet prinzipiell viel Geld.“ Viele Gemeinden stoßen bereits an ihre Kapazitätsgrenzen, auf Deutsch: Sie haben gar nicht so viele Betreuungsplätze, wie sie Kinder aus Familien holen.

In den besonders gefährdeten Kommunen herrscht Alarmstimmung. „Es gibt eindeutig mehr Kinderschutzfälle“, schätzt Andreas Gladisch, Jugendamtsleiter in Berliner Risikokiez Friedrichshain-Kreuzberg. „Insgesamt bereitet mir die breite Problematik Sorgen. Die Fähigkeit vieler Eltern, Kinder angemessen zu versorgen, hat abgenommen.“ Immerhin, so beruhigt Gladisch, lenken die überforderten Väter und Mütter ein – und stimmen einer freiwilligen Heimunterbringung zu. „Meiner Meinung nach liegt es nicht am Geld im System, sondern am Versagen vorher“, sagt Gladisch – und trifft damit die Einschätzung des Kinderschutzbundes. Wer früh präventiv tätig werde, könne später viel Geld für teure Heime sparen, sagte der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, im Interview (s. unten).

In Bremen war das bei dem jüngsten Fall nicht gelungen. Polizeibeamten war am Mittwoch auf der Straße auf ein sehr dünnes Kind mit verschmutztem Gesicht aufgefallen. In der Wohnung der Familie fanden sie die verwahrloste Schwester – und holten die Kinder sofort aus der Familie heraus.

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