: Sonnenbrille auch nach Mitternacht
Schwarze Berge, blendend weiße Gletscher: Der Spitzbergen-Archipel ist eine der bestzugänglichen Regionen der gesamten Hocharktis. Die weitläufigen Landschaften sind atemberaubend spektakulär. Brenzlig wird’s nur dann, wenn in helllichter Nacht ein Eisbär kommt
Literatur: Rolf Stange: Spitzbergen – Svalbard. Wissenswertes rund um eine arktische Inselgruppe. Eigenverlag Rolf Stange, 26 Euro Andreas Umbreit: Spitzbergen mit Franz-Joseph-Land und Jan Mayen, Conrad Stein Verlag, 8. Aufl. 2007, 24,90 Euro
Reise-Informationen: www.svalbard.net www.svalbard.com www.spitzbergen.de
Reiseveranstalter: www.nordwindreisen.de www.fauna-reisen.de
Anreise: SAS fliegt täglich nach Spitzbergen von Oslo und Tromsø. Außerdem bietet die Billigfluglinie norwegian.no Flüge von Deutschland nach Oslo und weiter nach Longyearbyen an www.norwegian.no
Samenbunker: Im Februar 2008 wurde eine Pflanzensamenbank eingeweiht, die von der norwegischen Regierung, der EU und weiteren Organisationen errichtet wurde. Ziel ist es, weltweit Nutzpflanzen zu erhalten und die Ernährung der Weltbevölkerung langfristig sicherzustellen. Dabei soll auch der Samenbunker auf Spitzbergen dienen, der 120 Meter tief im Permafrost-Felsmassiv Spitzbergens angelegt wurde.
VON MARK LATHAM
Schon die Reise ist ein Erlebnis. Auf dem Nachtflug von Oslo lassen wir bald die Dunkelheit Südnorwegens hinter uns, und die Maschine fliegt exakt nach Norden in Richtung Polarkreis – in den vollen Schein der Mitternachtssonne hinein. Als sich das Flugzeug Spitzbergen nähert (norwegisch: Svalbard), der größten Insel des gleichnamigen Archipels, schauen wir auf schwarze vulkanische Berge und blendend weiße Gletscher. Von diesem weit nördlichen Punkt aus – 78 Grad nördliche Breite – könnte das Flugzeug in gut einer Stunde den Nordpol erreichen. Aber die Piloten ändern den Kurs für den Anflug auf Longyearbyen, der Hauptsiedlung Spitzbergens.
Obwohl ich an lange schottische Sommernächte gewöhnt bin, bin ich auf die 24 Stunden Sonnenlicht, die es hier mindestens vier Monate im Jahr gibt, keineswegs vorbereitet. Wir landen kurz nach Mitternacht, doch es hätte ebenso Mittag sein können. Sobald ich mein Gepäck vom Band genommen habe, greife ich als Erstes nach meiner Sonnenbrille.
Ich will an einer zehntägigen Gletscherexpedition teilnehmen und bin ein paar Tage vor dem Rest der 13-köpfigen Gruppe angekommen, um mich in Longyearbyen und Umgebung umzusehen, bevor sich der Treck auf den Weg macht. Die Stadt erinnert an ein Goldgräbercamp im kanadischen Klondike, wirkt aber zugleich aufstrebend und kosmopolitisch. Umweltforscher aus aller Welt drängen sich in den Kneipen und Cafés mit Touristen, Studenten und Reiseleitern von Abenteuerreisen.
Es gibt eine Schule, ein paar Museen, Läden für Outdoorausrüstung, Touristenshops, Restaurants, einen Supermarkt, ein Postamt, Krankenhaus, Sportcenter, Kino und eine Universität. Sogar ein Paar 5-Sterne-Hotels gibt es für alle, die einen Hauch von Luxus vor und nach der Exkursion in die arktische Wildnis bevorzugen. Ein Schild an der einzigen Bank der Stadt weist die Kunden an, die Gewehre doch bitte draußen zu lassen.
Inmitten der Stadt kann man Rentiere sehen, die um die leuchtend bunten Holzhäuser herum grasen – und Polarfüchse, die unter dem Netzwerk von Rohrleitungen durchhuschen, das alle Gebäude mit dem zentralen, vom örtlichen Kohlebergwerk betriebenen Heizungssystem verbindet. Der starke Permafrost erfordert, dass sanitäre Anlagen grundsätzlich über dem Boden installiert werden.
Der Rest der Gruppe – eine Mischung aus Paaren und Singles von Mitte vierzig bis Anfang sechzig – kommt am nächsten Tag an. Wir besteigen ein Boot für die vierstündige Fahrt nach Petuniabukta, in das Herz von Spitzbergen, wo wir unser Basislager aufschlagen werden. Unterwegs sehen wir zahlreiche Seevögel, die wir schon aus Schottland kennen: Lummen, Möwen, Papageientaucher, Dreizehenmöven, Eissturmvögel, Schmarotzerraubmöven, Seeschwalben und Eiderenten.
Mehr Eisbären als Leute
Vom Boot werden wir mitsamt der schweren Ausrüstung mit einem Schlauchboot an Land gebracht. Sobald die Zelte aufgestellt sind, installieren unsere Führer Kristin und Henrik einen Stolperdraht um das Lager herum und instruieren uns, was zu tun ist, wenn nachts ein hungriger Eisbär auftaucht. Der Draht soll einen Alarm auslösen, der den Eindringling verschreckt und in die Flucht schlägt. Für den Fall, dass das nicht funktioniert, sind die Reiseleiter mit Großkaliberbüchsen ausgerüstet, die sie auch benutzen, wenn es nötig sein sollte. Es soll über 3.000 Eisbären auf Spitzbergen geben – das ist mehr als die menschliche Bevölkerung von 2.500. Doch in den Sommermonaten folgen sie ihrer natürlichen Nahrungsquelle, den Robben, nah beim Treib- und Packeis an den nördlichen und östlichen Küsten der Insel. Wir haben keinen gesehen, aber am letzten Abend der Reise wurde ein ausgewachsener Eisbär etwa 30 Kilometer von unserem Lager entfernt von einem Reiseführer erschossen, nachdem dieser sich gefährlich einer Gruppe von Tagesausflüglern eines Kreuzfahrtschiffes näherte. Ein Foto des blutigen 700-Kilo-Kadavers war auf dem Titelblatt der örtlichen Postille Svalbardposten zu sehen. Da Eisbären zu den geschützten Arten gehören, wurde eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet.
Um uns für die viertägige Expedition über den Mittag-Leffler-Breen, einen der größten Gletscher Spitzbergens, vorzubereiten, wandern wir von unserem Basislager aus jeden Tag etwa zwölf Stunden. Das Terrain ist schwer zugänglich und erfordert fast täglich mühsame Gletscher- und Flussüberquerungen.
Die tief liegende Tundra um unser Lager ist unerwartet fruchtbar und farbenfroh. Ein freundliches Ren verbringt viel Zeit damit, leuchtendes Moos zu kauen. Die Steine sind mit hellem Grün, orangefarbenen Flechten und purpurnem Steinbrech bedeckt.
Eine der einfacheren Touren führt zu der verlassenen russischen Kohlebergbausiedlung Pyramiden – benannt nach dem pyramidenförmigen Berg, der über ihr liegt. Heute ist die Siedlung, einst Heimat von mehr als tausend Minenarbeitern, mit verrosteten Bergbauutensilien übersät. Im Jahr 1998 wurde die Mine geschlossen und die gesamte Bevölkerung nach Russland evakuiert. Die desolate Geisterstadt ähnelt Barentsburg, der anderen Bergbausiedlung Spitzbergens. Die ist derzeit noch bewohnt und in Betrieb. Doch laut Gerüchten in der norwegischen Community soll Barentsburg nicht mehr wirtschaftlich sein und von den russischen Behörden nur wegen territorialer Ansprüche betrieben werden. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Norwegen durch den Spitzbergenvertrag die Souveränität über den Archipel – und die Sowjetunion das Recht, Bodenschätze abzubauen. Wenn sich Russland einmal komplett zurückzöge, wäre es sehr schwierig, das wiederaufzubauen.
Der Verlust an Arbeitsplätzen in der Kohlemine wird durch die Eröffnung einer großen neuen, von den Norwegern betriebenen Mine in Sveagruva kompensiert. Da das Schmelzen der polaren Eiskappe zum mächtigsten Symbol der globalen Erderwärmung geworden ist, ist es ein merkwürdiges Paradox, dass die Haupterwerbsquelle auf Spitzbergen im Abbau fossiler Energien besteht.
Die strengen arktischen Winter haben während der letzten zehn Jahre an den Gebäuden von Pyramiden ihre Spuren hinterlassen, und Eismöwen nutzen die Fenstersimse der verwahrlosten Wohnungen im sowjetischen Stil als Nistplätze. Der Ort hatte einen eigenen Kindergarten, eine Grundschule, ein Katzengrab, Gewächshäuser, ein Kulturzentrum und eine Lenin-Statue sowie den nördlichsten Swimmingpool der Welt. Doch die ganze Siedlung ist in Gefahr, von der Flut weggespült zu werden. Die Schottermauern, die die Flüsse um die Siedlung leiteten, haben die Ufer zerstört, und es gibt niemand, der sie in Ordnung bringt.
Der Tag vor unserer Expedition zum Mittag-Leffler-Breen ist als Ruhetag geplant, und unsere Reiseleiter bestehen darauf, dass eine Sauna die beste Art der Vorbereitung auf die Strapazen ist. Wir suchen die Küste an der Bucht nach Holz ab und finden schließlich genug, um ein Lagerfeuer zu machen. Mehrere Stunden lang wird ein großer Felsbrocken stark erhitzt, bis er vorsichtig in eines der Zelte transportiert werden und als improvisierte Sauna dienen kann. Das Wasser spritzt und zischt, als es auf den Stein geschöpft wird, und ein nach Schwefel riechender Dampf füllt das Zelt. Als die Hitze unerträglich wird, stürzen wir uns mit unseren pochierten und kribbelnden Körpern in das eiskalte Wasser des Billefjorden.
Der Temperaturunterschied zwischen der dampfenden Sauna und dem fast gefrierenden Meerwasser ist beinahe ein Schock – aber wir laufen vergnügt zurück und wiederholen die Prozedur dann noch mehrere Male. Eine Sauna mitten in der arktischen Tundra ist eine elementare und wahrhaft erfrischende Erfahrung.
Scharfer Ruck am Seil
Am nächsten Tag machen wir uns mit schwerem Gepäck auf den Weg zum Mittag-Leffler-Gletscher. Es soll der Höhepunkt der Tour sein, aber tiefe Wolken hängen über uns, als wir Ragnarbreen erreichen, den ersten der Gletscher, die wir an diesem Tag überqueren. Es wird noch schlimmer: Eine Frau aus der Gruppe, die nicht an das Tragen von Steigeisen gewöhnt ist, bekommt Fußschmerzen und ist am Ende ihrer Kraft.
Wir haben gerade den Mittag-Leffler-Breen erreicht, da spüre ich einen scharfen Ruck am Seil. Die Frau vor mir fällt durch eine Schneebrücke in eine Gletscherspalte. Erfolglos versuche ich, meinen Eispickel ins harte Eis zu rammen, doch das Seil mit dem Gewicht von 13 Leuten daran ist zu schwer. Eine Viertelstunde später, nachdem ein ausgeklügelter Zugmechanismus konstruiert ist, gelingt es Kristin und Henrik, eine verletzte und zitternde Gillian aus der Gletscherspalte zu ziehen, und wir zockeln weiter über den Gletscher.
Nachdem wir zwölf Stunden durch den frostigen Nebel gelaufen sind, klettern wir schließlich auf einen Nunatak, einen Felsen namens Heclastakken in der Mitte des Gletschers, wo wir ein Lager aufschlagen. Die Felsnase befindet sich in der Mitte eines fünf Meilen weiten Eismeers, das von dunklen Bergen umgeben ist. Als sich der Nebel lichtet, erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf die Berge, deren eigenartig geschichtete und spitze Gipfel Spitzbergen seinen Namen geben. In der Ferne sieht man Newtontoppen, der mit 1.717 Metern höchste Berg der gesamten Inselgruppe.
Der Plan war, in den nächsten Tagen einige Gletscher „einzusacken“, aber Marisas Fuß zeigt am Tag darauf keine Anzeichen der Besserung. Unsere Führer rufen mit einem Satellitentelefon einen Hubschrauber, doch der dichter werdende Nebel macht eine Rettungsaktion unmöglich. Wir entscheiden, die Expedition abzubrechen. Wir packen die Zelte und folgen unseren Spuren zurück über den Gletscher ins Basislager, wo wir kurz vor Mitternacht ankommen. Das Abendessen wird am frühen Morgen serviert.
Einige Tage später kommt das Schiff in die Bucht von Longyearbyen, um uns zurück in die Zivilisation zu bringen. Nach zehn Tagen in der Wildnis erscheint uns die Vorstellung einer heißen Dusche als betörendes Vergnügen. Sobald wir an Bord der Langøysund geklettert sind, bereitet uns die Crew ein delikates Barbecue mit norwegischen Pfannkuchen und Eiskrem zum Dessert. Auf dem Weg nach Longyearbyen kommt unser Boot am riesigen Nordenskiöld-Gletscher vorbei, der sich von der unserem Lager gegenüberliegenden Seite der Bucht in den Fjord hineinschiebt.
Als sich das Schiff der 30 Meter hohen Eismauer des Gletschers nähert, zerreißt ein gedämpftes Krachen die Luft, und ein ansehnlicher Brocken Eis vom Gletscher donnert in die See. Der Barmann schöpft einige der tausend Jahre alten Eisstücke aus der See und mixt damit Abendcocktails, um das Ende der Tour zu feiern.
Während die Eissturmvögel den Bugwellen unseres Schiffes folgen, genießen wir unseren Gin mit Tonic und stoßen auf unsere Reiseleiter an, die uns an diesen magischen Ort gebracht haben.
Übersetzung aus dem Englischen von Petra Zornemann
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