Haitis neue couragierte Führungsfrau

Michèle Pierre-Louis, 61, war einst eine Vertraute Jean-Bertrand Aristides. Jetzt soll die Aktivistin verschiedener Nichtregierungsorganisationen Haiti als Premierministerin aus der Krise führen. FOTO: FOKAL

Ob sie sich persönlich wirklich einen Gefallen getan hat, wird sich in den nächsten Wochen erweisen. Nichtregierungsorganisationen aus dem Bildungsbereich, die Zivilgesellschaft Haitis im Allgemeinen und die Alternativszene im Besonderen aber frohlocken über Haitis neue Premierministerin: Mit Michèle Pierre-Louis hat eine anerkannte Frau ein hohes Staatsamt erobert.

Bekannte und persönliche Freunde, Diplomaten und Vertreter internationaler Hilfsorganisationen beschreiben die Geisteswissenschaftlerin als eine effiziente, kompetente und vor allem couragierte Kämpferin gegen Armut, Korruption und Vorurteile. „Sie hat sich in all den Jahren an der Spitze von Nichtregierungsorganisation erstaunlich unempfänglich für Machtallüren und vor allem für die Verführungen gefüllter Kassen gezeigt. Sie ist wirklich integer“, lobpreist ein ausländischer Projektpartner.

Seit 13 Jahren leitet die 60-Jährige, die in Haiti und den USA Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studierte, die haitianische Fondasyon Konesans Ak Libète (Stiftung Kenntnis und Freiheit, Fokal). Die Stiftung machte sich vor allem mit Alphabetisierungskursen und dem Aufbau von Bibliotheken einen Namen.

Pierre-Louis, die in der Hafenstadt Jérémie geboren wurde, wird schon seit bald 15 Jahren immer wieder als potenzielle Regierungschefin gehandelt. Politische Verantwortung trug sie zum ersten Mal 1991 unter Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide. Im Ministerrang war sie für die Koordination zwischen dem Staatschef und den Ministern zuständig – später ging sie auf Distanz zu ihrem ehemaligen Weggefährten.

Obwohl Staatspräsident René Preval sie erst nominierte, als bereits zwei andere Kandidaten im Parlament gescheitert waren, ist sie nicht dritte Wahl. Beide verbindet eine persönliche Freundschaft, außerdem ist sie seine bildungspolitische Beraterin. Vielleicht wollte er sie schützen. Denn kaum hatte Preval sie vorgeschlagen, wurde die geschiedene Mutter einer Tochter Ziel einer Schmutzkampagne. Evangelikale Kreise in Haiti verbreiteten im Internet Zweifel an ihrer „moralischen Zuverlässigkeit“.

Mitglieder der Deputiertenkammer und des Senats verlangten daraufhin eine Erklärung zu ihren „homosexuellen Neigungen“. Nachdem sie bisher jede öffentliche Äußerung zu ihrem Privatleben verweigert hatte, knickte Pierre-Louis am Mittwoch doch ein: Es handele sich um „Verleumdungen und Lügen“. Nach der Distanzierung fand sie eine Mehrheit. Künftig dürften ihre Gegner jedoch wissen, wie sie die Frau mit der krausen Kurzhaarfrisur vor sich hertreiben können.

HANS-ULRICH DILLMANN

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