Tante Nina vertreibt den Alkoholismus

Eine Sozialpädagogin im Klinikum Ost versinkt in Arbeit: Sie ist die einzige russischsprachige Suchtberaterin

Seit ihre Nummer nicht mehr im Telefonbuch steht, hat Nina Brunsch wieder etwas mehr Freizeit. Davor wurde die Sozialpädagogin auch nach Feierabend um Hilfe gebeten von ihren russischen Landsleuten. Es hatte sich in der Stadt herumgesprochen, dass „Tjotja Nina“, „Tante Nina“, wie die 51-Jährige genannt wird, bei der sozialpsychiatrischen Beratungsstelle im Klinikum Ost arbeitet. Extra eingestellt wurde, um sich um die vielen alkoholabhängigen Russen zu kümmern, die dort seit Ende der 90er Jahre aufliefen. Ein Zehntel aller Alkohol-Klienten in der Beratungsstelle, schätzt Brunschs Kollege Thilo Frei, kämen aus Russland. Als Deutscher habe er ihnen selten helfen können. „Oft mussten die Kinder dolmetschen, aber das hieß, dass der suchtkranke Vater nicht erzählt hat, was los war“, erinnert sich Frei. So blieb es meist dabei, dass die Männer und wenigen Frauen eine Entgiftung machten, aber keine Therapie. „Nach ein paar Wochen waren die dann wieder hier.“ Eine Umfrage in Selbsthilfegruppen ergab, dass „die Russen“ dort nur ihre Zeit absaßen. Gefragt, warum sie da seien, hieß es meistens, „Führerschein“.

Vor sechs Jahren fand Frei Nina Brunsch, eine ausgebildete Erzieherin und Lehrerin aus dem Nordkaukasus, die ihrem Mann, einem Wolgadeutschen, schweren Herzens nach Deutschland gefolgt war und in Tenever eine ABM-Stelle hatte. Brunsch erklärte ihren deutschen Kollegen und Kolleginnen erst einmal, dass Alkoholismus in Russland ein noch größeres Tabu ist als in Deutschland. „In Russland wird viel getrunken“, erzählt Brunsch, „ein Wodka vor dem Essen, ein Wodka auf die Großmutter, ein Wodka nach dem Hauptgang, ein Wodka zum Nachtisch, viele Wodkas nach dem Essen – nein sagen geht nicht.“ So werde Alkoholismus gefördert – während es gleichzeitig verpönt sei, eine Abhängigkeit einzugestehen. „Das ist ein Makel.“

In ländlichen Gegenden sei es sogar üblich, Alkoholismus mit Hexerei in Verbindung zu bringen, die entsprechend ausgetrieben werden könne. „Wir haben kein Konzept dafür“, sagt Brunsch, und dass auch sie erst in Deutschland gelernt habe, was eine Abhängigkeit ist und wie sie entsteht. Am Anfang, gibt sie lachend zu, habe sie gar nicht verstanden, warum in Deutschland so viel Geld für Suchtkrankenhilfe ausgegeben wird. Und ihre Freunde in Russland fragen sie immer noch: „Nina, du bist Lehrerin, warum machst du so etwas?“

Brunsch hingegen strahlt, wenn sie über ihre Arbeit redet, derzeit lässt sie sich zur Suchttherapeutin weiter bilden. Ihre vierte Ausbildung, erst vor zwei Jahren beendete sie ihr Sozialpädagogik-Studium. Sie glaubt, dass ihre Migrationserfahrungen ihr helfen, weil sie die häufig hervorgebrachte Entschuldigung, an der Sucht sei Deutschland schuld, zurückweisen kann. „Viele sagen, ich kann nichts dafür, es ist hier alles so schwer. Dann sage ich ihnen, dass ich es auch geschafft habe, obwohl ich auch kein Deutsch konnte, als ich vor 16 Jahren hierher kam.“ Zudem war sie krank, hatte einen Unfall und schreckliches Heimweh. Wegen ihrer beiden Söhne, die eine gute Ausbildung bekommen sollten, hielt sie durch.

Sie weiß, dass andere es noch schwerer haben. Sie versteht, dass es Gründe gibt zu verzweifeln, aber sie entlässt die Leute nicht aus der Verantwortung. „Viele bleiben einfach stehen“, sagt sie und fordert eine gewisse Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat – undenkbar für einen deutschen Sozialarbeiter. Brunsch bietet kein Mitleid, sondern Hilfe – auch im Umgang mit den Behörden, der vielen ihrer Klienten schwer fällt. „Manche haben ein schlechtes Gefühl, weil sie glauben, die Leute in der Bagis denken, ‚wir geben euch so viel und ihr sauft bloß‘.“ Angst hätten viele Russen auch vor der Psychiatrie. Zum einen würden psychiatrische Erkrankungen wie Süchte in Russland geleugnet. Zum anderen seien früher politisch Verfolgte in Psychiatrien „verschwunden“.

Zu Nina Brunsch aber gehen sie und reden. Auch wenn sie ihr am Anfang meistens versichern, dass alles in Ordnung ist. Das Problem ist, dass Brunsch eigentlich nur die behandeln darf, die im Bremer Osten wohnen, doch in den anderen Stadtteilen fehlt jemand wie sie. Abweisen muss sie auch diejenigen, die um Hilfe bei Depressionen oder Abhängigkeit von illegalen Drogen bitten. Sie würde gerne helfen. „Man kann körperliche Krankheiten mit einem Wörterbuch beschreiben“, sagt Brunsch, „aber nicht seelische“.

Eiken Bruhn