Tragikomisches Sprachwunderwerk

Bücher von norddeutschen Schriftstellern nochmals aus dem Regal gezogen. Zum Auftakt der neuen taz nord-Serie: „KAFF auch Mare Crisium“ von Arno Schmidt

WIEDERGELESEN VON MICHAEL QUASTHOFF

„Der Mond ist notorisch meine Domäne“, verfügte Arno Schmidt (1914 –1979). Er hatte ihn ja auch oft genug vor der Kassenbrille, wenn er nächtens in seiner Bargfelder Schreibstube aus dem Fenster guckte. Schmidt nahm dann gewöhnlich einen tiefen Zug aus der Asbachflasche, griff zum Bleistift und ließ die Assoziationsmaschine rotieren. Die Vorratswirtschaft zahlte sich aus. Gebrach es einem Nocturno mal an lunarem Kolorit, langte er einfach in den berühmten Zettelkasten und schon klebte am Prosa-Himmel eine „pock’nnarbije Alte mit vergilbtn Teint“, ein „kahler Mongolenschädel“, wahlweise eine „Aspirintablette“ oder es dräute ein „stiller Steinbuckel im rauhen Wolkenmoor“. Nicht mal Eichendorff vermochte den Trabanten mit so zärtlich manischem Furor zu besingen wie der „Solipsist aus der Heide“.

Schmidts „Mondsüchtigkeit“ (Selbstdiagnose) gipfelte 1960 in dem Roman „KAFF auch Mare Crisium“, dem die deutsche Literatur einiges zu verdanken hat: zwei ihrer schönsten Frauengestalten etwa, eine individualanarchistische Rechtschreibreform auf „ettümollogischer“ Basis, die erste und bis heute einzige gelungene Kreuzung aus Heimat- und Science-Fiction-Roman, last but not least: ein tragikomisches, realitätssattes Sprachwunderwerk, das unser Herumhomunkeln bündig wie haltbar auf den Punkt bringt: „Die Uhrwertüre ist Wei’n, Röcheln das Fienale, dazwischen Possn & höllische Dissonantzen“.

Alter Ego, kaum getarnt

Davon weiß KAFF-Animator Karl Richter ein strophenreiches Lied zu singen. Der Mittvierziger, wie fast immer bei Schmidt ein kaum getarntes Alter Ego, hasst seinen Brotberuf (Büroangestellter) und leidet unter akuten Herzrhythmusstörungen. Zum einen organisch, zum anderen kann Freundin Hertha Theunert der gemeinsamen Triebabfuhr nur wenig abgewinnen. Eine Romanze in Moll also, die Schmidt in der herbstlich herben Umgebung des Heidefleckens Giffendorf inszeniert. Hier residiert Karls „Tanndte Heete“, im Gegensatz zum mageren Fräullein Theunert, ein barockes Vollweib, das einst die pubertären Fantasien ihres Neffen befeuerte und immer noch genüßlich darauf herumzureiten weiß. Sie offeriert dem Pärchen freies Wohnrecht in ihrem Haus und damit ein neues, sorgenfreies Leben fernab des Weltgebrumms. Einzige Bedingung: die Heirat.

Karl, dem nihilistischem Bücherwurm, scheint das eine bedenkenswerte Alternative; die von Krieg und Flucht traumatisierte Hertha bleibt skeptisch, zumal es in Giffendorf, „langweilicher“ ist als „uff’m Mond“. Da gerät sie bei Karl allerdings an den Richtigen. Um ihr zu demonstrieren, wie echte Tristesse aussieht und wo man(n) die Prioritäten zu setzen gedenkt, wird nun ein zweiter Handlungsstrang (im Schmidt-Sprech: „ein längeres Gedankn=Schpiel“) eingezogen.

Karl schlüpft in die Rolle des gestrandeten Astronauten Charles Hampden und entwirft eine Zukunftsvision, abgründig wie Huxleys „Schöne neue Welt“, dankenswerterweise aber weitaus komischer. Sie spielt im Jahr 1980. Die Erde ist nach einem Atomkrieg unbewohnbar geworden. Der Rest der Menschheit, je 1.000 russische und amerikanische Mondkolonisten, hat sich im Mare Crisium hinter Kraterwänden und Stacheldraht eingegraben.

Verflochtene Ebenen

In der virtuosen Verflechtung der beiden Erzählebenen liegen Reiz und Meisterschaft des Romans. Das Trabantenszenario ist selbstredend nur eine aberwitzige Paraphrase des irdischen Jammertals. Patriotische Feierlichkeiten werden mit wahn- und bluttriefenden Versionen des Cid-Epos (Russen), respektive des Nibelungenliedes (Amis) garniert, im Zuge dessen Hertha zu „Cream-“ und Hete zu „Brown=hilled“ mutieren, während Hampden durch einen Parcour Freud’scher Fehlleistungen stolpern muss.

Darüberhinaus nutzt Schmidt die Mondbasen für eine satirischen Flächenbombardement wider alles, was „Gehirntieren“ seines Zuschnitts gehörig auf den Geist geht: Ideologen, Militärs, die Kaste der „Tech=Nicker und Wisser“, vor allem der Typus des genialischen Künstlers („wenn ich Einer wär’, würd’ich mich henngn !“).

Ähnlich markant sind die ethnologischen Feldstudien aus der niedersächsischen Tiefebene: „Vorn 1 wöllüstig fette Stirn : an der Seite hingen die Ohren wie Lumpen“. Allesamt „schtarkbehaarte Sassen, Kerls mit ungeschnobenen Nasn : Flotzmäuler“.

Die Welt der Wörter

Angesichts dieser gesammelten Zumutungen propagiert Karl seinen offensiven Rückzug in die Welt der Wörter und bietet der Freundin den Job der Muse. Ob sich Hertha ins Giffendorfer Arkadien locken läßt, bleibt am Ende offen. Wie am Anfang keckert ein Motor sein Hämisches „Nichts Niemand Nirgends Nie!“ und die beiden fahren zurück in die Stadt. Doch man darf hoffen. Denn eines hat Tante Heete der projektierten Schwägerin noch mitgegeben: „Apgesehen von der allen Männern anhaftndn Blödheit -: Er kann doch sehr unterhaltsam sein.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

erhältliche Ausgaben: Taschenbuch, Fischer, 2002. Neuausgabe, 9,90 Euro. Gebundene Ausgabe, Suhrkamp, 2004. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Neusatz. 314 Seiten, 24 Euro. Hörbuch, Hoffman und Campe, 2004, 10 CDs, Gelesen von Jan Philipp Reemtsma. 79 Euro