: Globale Messe der Chemie
Olympia hilft, Wünsche nach dem manipulierten und kontrollierten Körper zu wecken. Von INES GEIPEL
Olympische Spiele sind seit jeher gigantische Umwälzmaschinen – von Glanz, Geld und Machtansprüchen. Die Spiele in Peking werden ein Olympia neuen Typs zwischen Sein und Schein, ein Megafest der Wünsche, Klischees und Illusionen, eine bizarre Mischung aus Trickkiste und Selbstbedienungsladen, ein vorläufiger Kulminationspunkt aus Kommerz und Betrug. Und nicht zuletzt eine globale Messe der Chemie.
Die aktuellen Messezahlen sind in Hinblick auf die schleichende Zwangsoptimierung von Hirnen, Seelen und Körpern zumindest handfest: Mehr als eine Million Körperfreaks nehmen etwa in deutschen Fitnessstudios regelmäßig Steroide und Wachstumshormone. In den USA konsumieren laut einer Studie sieben Millionen Kinder täglich Ritalin, eine Substanz, die für Patienten mit ADHS, dem sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom entwickelt wurde. 1990 wurden in Deutschland 1.500 Kinder mit diesem Medikament behandelt, 2007 waren es bereits 500.000 diagnostizierte ADHS-Fälle. Die Tendenz ist eindeutig, und zwar in allen Bereichen: Die Pharmazie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im Alltag. Nach- und Nebenwirkungen all der chemischen Zeitbomben? Komplette Fehlanzeige.
Es sieht sehr danach aus, als ob derzeit die Weichen hin zum perfekten, manipulierten, total konformen und nicht zuletzt auch kontrollierten Körper gestellt werden. Da ist die Forschungsoffensive der internationalen Pharmamultis nach neuartigen Lern- und Gedächtnispillen, dort sind die Billigstmassenprodukte auf unregulierten Märkten in Dopingländern wie China oder Russland. Für leistungssteigernde Mittel in einer von Narzissmus getriebenen Welt kann in jedem Fall gesorgt werden. Weil Bedürfnisse aber nicht permanent neu und von allein entstehen, muss schon heftig in sie investiert werden. Die US-amerikanische Pharmaindustrie hat 2004 allein 57,5 Milliarden Dollar für Werbung aufgewendet – und nur 31,5 Milliarden Dollar für die Forschung. Nichts deutet aktuell darauf hin, dass diese Strategie in anderen Industriestaaten grundsätzlich anders aussähe. In Bezug auf Deutschland hält das Informationsforum „arznei-telegramm“ fest: „Üblicherweise sind die von den Pharma-Unternehmen herausgegebenen Angaben über ihre Werbeausgaben drastisch geschönt.“ Kritiker sprechen vom großen Pharma-Bluff, der in der Schaffung von Konsumentenbedürfnissen besteht. Es ist ein mieser Deal mit Ängsten, bei dem die „wunscherfüllende Medizin“ immer aggressiver angeboten wird, um bisher unbekannte Krankheiten und einen Markt auszumachen.
Eine intensive Verquickung von Sport und Gesellschaft im Sinne eines neuen Körperkonzepts? Unter diesem Blickwinkel war die diesjährige Tour de France nicht viel mehr als der Opferpfand, bei dem der Blick des Fans auf den ritualisierten Dopingfall gelenkt wurde. Chemie kam in diesem Szenario als eine Art Naturgewalt daher, gehörte schlichtweg dazu. Wer erwischt wurde, hatte Pech, war selbst dran schuld und konnte brutal skandalisiert werden.
Und Peking 2008? Wofür steht der chemische Irrsinn? Von den „saubersten Spielen, die es je gegeben hat“, wie die Organisatoren sie ausriefen, ist schon längst keine Rede mehr. Jacques Rogge, Chef des Internationalen Olympischen Komitees, sprach von 40 zu erwartenden Dopingfällen. Wie er auf die Zahl kommt, ist völlig schleierhaft. Gemessen an der Halbwertszeit seiner Sätze zum olympischen Großereignis hätte er ebenso gut auch von 900 Fällen sprechen können. Niemand weiß so gut wie der selbsternannte Naivling, dass all seine Prognosen bei den Pekinger Spielen längst jeglichen realen Boden verloren haben.
Ines Geipel, 48, war Hochleistungssportlerin in der DDR und lehrt heute als Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch
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