Trainingsziel ist die Selbstvollendung

Warum Heuschrecken, Algen und Putins Panzer dem Geist der Spiele nichts anhaben können. Von DIETER BAUMANN

Was den Funktionären bisher nicht gelungen ist, liegt nun allein in den Händen der Athleten. Noch ist Zeit

Dieser Tage kann einem um den „olympischen Geist“ Angst und Bange werden. Das Ausrichterland China tritt den Geist in Sachen Menschrechte mit Füßen, die hohen Herren des IOC haben ihn im wahrsten Sinne des Wortes verkauft, und Herr Vesper, Geschäftsführer des DOSB, biegt sich den Geist so lange zurecht, bis er in jede Schublade passt. Das Klima in Peking ist von allen guten Geistern verlassen. Im Grunde aber ist es wie in jedem Jahr um diese Zeit: schwül und heiß. Zu nennen sind noch: die Luftverschmutzung über der Stadt, die Algen beim Segeln und die Heuschrecken beim Beachvolleyball. Eröffnungsfeier und Kriegsbeginn, damit war der Geist dann erst mal weg. Auf was soll ich mich noch freuen? Auf die Spiele und den olympischen Geist, dem ich ja selbst über viele Jahre ergeben war und immer noch bin.

Der Sportwissenschaftler Ommo Grupe zählt fünf Punkte auf, die für ihn als olympisch anzusehen sind. Den ersten Punkt, „das Ideal des Amateurismus“, können wir getrost als große Täuschung bezeichnen. Ziel dieses Ideals wäre es, die Athleten davor zu bewahren, „Gladiatoren“ zu werden und insgesamt den Sport vor dem Geist der „Gewinnsucht“ zu schützen. Auch beim zweiten Grundsatz, der „Bindung des Sports an ethische Regeln und Grundsätze“ kommen Zweifel auf: „Dem Sport zugeschriebene Werte erweisen sich als Ausdruck von Heuchelei und Doppelmoral.“ Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass der Respekt und die Achtung aller Menschen auch für das gastgebende Land gelten sollte.

Die drei weiteren Prinzipien, die Grupe nennt, sind „das Prinzip der Leib-Seele-Einheit“, die „Selbstvollendung“ und „die Friedensidee des Sports“. Damit kommt den Athleten eine entscheidende Rolle zu, dem olympischen Geist wieder auf die Beine zu helfen.

„Das Prinzip der Leib-Seele-Einheit“ sollte man als ganzheitliche Erziehung des Menschen verstehen. Eben nicht nur Muskeltraining und starrer Tunnelblick auf den Start. Zudem bedeutet sportliche Vorbereitung auf einen Wettkampf auch, sich mit seinen Gegnern als Mensch auseinanderzusetzen und ihn als solchen zu respektieren.

Beim Prinzip der „Selbstvollendung“ geht es nicht um einen vollendeten Körper, eine vollendete Wettkampfleistung. Keiner der Athleten glaubt tatsächlich daran, Vollkommenheit zu erreichen. Bei der „Selbstvollendung“ geht es vielmehr um „das Streben“ danach in Bezug auf eine sportliche Disziplin. Dieses ganz individuelle Einüben körperlichen Könnens und seiner Selbsteinschätzung dazu ist eine der spannendsten Erfahrungen, die Athleten aus meiner Sicht erleben können. Es geht nicht nur um Sieg oder Niederlage. Der Sport vermittelt durch jahrelanges Üben die richtige Selbsteinschätzung in Bezug auf die eigene Leistung und zeugt am Ende dieses Prozesses von einem großen Selbstvertrauen.

Dieser Punkt trifft auf alle Athleten zu, auch die, die niemals an Olympischen Spielen teilnehmen. Es trifft auf Menschen zu, die auf ganz anderen Gebiet diese Art der Selbsterkenntnis einüben. Sei es in der Kunst, Musik oder Wissenschaft. Es ist ein lebenslanges Üben mit sich selbst. Der fünfte Punkt in Ommo Grupes Aufzählung ist die „Friedensidee des Sports“. Die Schützinnen aus Georgien und Russland lebten diese Friedensidee nach der Siegerehrung ganz spontan und ohne Drehbuch vor. Es ist ein gegenseitiges Kennenlernen und Achten. Genau diese Aufgabe kommt allen Athleten in Peking zu: Sie müssen durch ihr Auftreten die einmalige Lebenswelt des Sports für den Zuschauer erlebbar machen. Um den olympischen Geist wieder zu beleben, braucht es zunächst einmal keine Medaillen. Was den Funktionären bisher nicht gelungen ist, liegt nun in den Händen der Athleten. Noch ist Zeit.

Dieter Baumann, 43, ist Leistungssportler, „Lebensläufer“ und war unter anderem Olympiasieger 1992 über 5.000 Meter