Angespannte Ruhe

Bewohner von Tiflis befürchten weiter russischen Einmarsch. Immer mehr Flüchtlinge erreichen die Stadt

Das grundlegende völkerrechtliche Vertragswerk über das Verhalten im Krieg, die Haager Landkriegsordnung von 1907, kennt nur den Begriff „Armistice“, der zumeist mit „Waffenstillstand“ übersetzt wird. In Artikel 36 der Haager Landkriegsordnung ist definiert: „Der Waffenstillstand unterbricht die Kriegsunternehmungen kraft eines wechselseitigen Übereinkommens der Kriegsparteien. Ist eine bestimmte Dauer nicht vereinbart worden, so können die Kriegsparteien jederzeit die Feindseligkeiten wiederaufnehmen.“ Der Kriegszustand zwischen zwei Ländern bleibt dabei bestehen.

Im völkerrechtlichen Sprachgebrauch hat sich jedoch eine Unterscheidung zwischen einer meist vorübergehenden Waffenruhe (Feuerpause) und einem vertraglich festgelegten Waffenstillstand eingebürgert. Die Waffenruhe soll ermöglichen, Verletzte bergen und die Zivilbevölkerung in Sicherheit bringen zu können. Ein Waffenstillstand ist dagegen oft Vorstufe zu einem Friedensvertrag. Gemäß den Genfer Konventionen sind die Kriegsparteien in einem Waffenstillstandsvertrag verpflichtet, die Rückkehr von Zivilinternierten und Kriegsgefangenen vorzusehen.

Wie der Koreakonflikt zeigt, kann ein Waffenstillstand sehr lange dauern, ohne dass ein Friedensvertrag geschlossen wird. Auf der koreanischen Halbinsel gilt der Waffenstillstand seit mehr als einem halben Jahrhundert. DPA

TIFLIS/BERLIN taz ■ Tamuna Gurschiani, Kulturmanagerin aus der georgischen Hauptstadt Tiflis, traut dem Frieden nicht. Aus gutem Grund: Trotz der vereinbarten Waffenruhe rückten laut Augenzeugenberichten am Mittwoch russische Truppen mit gepanzerten Fahrzeugen in Kolonnen in die 80 Kilometer von Tiflis entfernte Stadt Gori ein. Der Generalstab in Moskau hatte entsprechende Berichte zuvor als „Desinformation“ bezeichnet. Zudem berichteten verschiedene Nachrichtensender und -agenturen, dass russische Panzer am Mittwoch doch auf dem Vormarsch in Richtung Tiflis seien.

Die Lage in Tiflis war am Mittwochabend unübersichtlich, die Bevölkerung beunruhigt. Nach Augenzeugenberichten räumten Geschäftsinhaber ihre Läden aus. Auch Tamuna Gurschiani ist völlig verunsichert. „Ich habe von Plünderungen in Gori und anderen georgischen Städten durch russische freiwillige Kämpfer gehört“, sagt sie. Allerdings berichteten die georgischen Medien sehr verhalten über diese Ereignisse. Ein Grund dafür sei wohl, Panik unter den Menschen zu vermeiden. „Dennoch habe ich Angst, dass die Plünderer auch nach Tiflis kommen“, sagt die 33-Jährige.

In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung kümmert sich Gurschiani um 40 Flüchtlinge, die in einem Feuerwehrgebäude untergebracht sind. Tausende Flüchtlinge seien bereits in Tiflis eingetroffen, ständig kämen neue. „Hier gibt es schon zahlreiche Anlaufstellen für diese Menschen, und auch die werden immer mehr“, sagt Gurschiani. Nach UNO-Schätzungen beläuft sich die Anzahl der Flüchtlinge in der gesamten Krisenregion auf rund 100.000.

Georgische Truppen waren vergangene Woche in Südossetien eingerückt, um die abtrünnige Provinz unter Kontrolle zu bringen. Die Aktion scheiterte. Beobachter fragen sich seitdem, ob der innenpolitisch ohnehin geschwächte Staatspräsident Michail Saakaschwili nun noch mehr an Rückhalt verliert. In Tiflis sehen das viele anders. „Er hat seine Position gestärkt“, sagt Gurschiani. Obwohl die Militäraktion gescheitert sei, habe es keine Alternative gegeben. „Die beiden Gebiete Abchasien und Südossetien waren schon vorher für Georgien verloren. Doch zumindest haben Saakaschwili und seine Regierung dafür gesorgt, dass die Russen nicht unserer ganze Land besetzt haben.“

Ihre Unterstützung für Staatschef Saakaschwili hatten am Dienstagabend rund 70.000 Menschen mit „Misch! Mischa!“-Rufen und rot-weißen Fahnen bei einer Kundgebung vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis demonstriert. Saakaschwili hatte die Führung in Moskau scharf kritisiert und Georgien als „Vorposten im Kampf gegen Russland“ bezeichnet. Zudem hatte der Präsident angekündigt, die 1991 gegründete Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) verlassen zu wollen.

Doch trotz der inszenierten Jubelfeier macht sich in Tiflis Resignation breit. Die schicken Boutiquen an der zentralen Rustavelli-Straße sind geschlossen. Im renovierten Teil der Altstadt, wo jetzt eigentlich Touristen georgischen Wein kaufen sollten, ist kein Mensch zu sehen. Die Kellner der Gourmetrestaurants tigern gelangweilt zwischen den Tischen hin und her. Der Eingang zum Nationalmuseum ist durch ein großes Gitter versperrt. Ein Wächter kreuzt die Arme, um zu zeigen: Kein Einlass heute.

Auch ein freier Journalist, der anonym bleiben möchte, ist pessimistisch. „Die Russen kontrollieren Georgien, sie haben alle wichtigen Straßen und strategischen Punkte in ihrer Hand. Wie soll man sich schon in einem besetzten Land fühlen?“ D. NAUER, B. OERTEL