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eine dieser personen von MICHAEL RINGEL

Kurz bevor ich die Tür des Lokals erreiche, beschleunigt er noch einmal, um auch ganz sicher zuerst vor mir den Laden zu betreten. Er grinst, stößt die Tür auf und lässt sie zurückfedern. Ich drehe ab und noch eine Runde um den Block, um den Kurz-vor-mir-Reinwischer nicht wieder sehen zu müssen. Es ist eine dieser Personen.

Sie greift zu einem Stück Papier und sagt: „Ich nehme ein Stück Papier.“ Dann sucht sie einen Stift und sagt: „Ich suche einen Stift.“ Sie entdeckt einen und sagt: „Da ist ja ein Stift.“ Dann schreibt sie ein paar Worte auf und sagt: „Ich schreib dann etwas auf.“ Bis sie fertig ist, hat sie alles, was sie tut, kommentiert. Ich kann der handlungsbegleitenden Sprecherin nicht entgehen. Es ist eine dieser Personen.

Die Straße zum Bahnhof würde sich zehn stille Minuten hinziehen. Als die Fußgängerampel auf Grün umspringt, laufe ich los. Plötzlich höre ich ihn hinter mir. Sein praller Schlüsselbund hängt am Gürtel. Es sind mindestens fünfzehn Metallteile. Die rasseln und klappern und klingeln und … Zehn Minuten werde ich den Schlüsselbundglöckner ertragen müssen. Es ist eine dieser Personen.

Sie bittet mich, ihr die Angelegenheit zu erklären. Spätestens nach dem zweiten Satz zieht sie die Oberlippe hoch und die Nase kraus und verharrt minutenlang mit dem Gesichtsausdruck eines aufgestörten Pavians. Gebannt starrt sie mich an, und ich muss mich bemühen, nicht ins rosarote Fleisch der konzentrierten Zahnfleischzeigerin zu schauen. Es ist eine dieser Personen.

Die Tür des überfüllten U-Bahn-Wagens öffnet sich. Draußen steht er mit seinem schmutzigen Fahrrad. „Da passen wir doch noch rein!“, ruft er fast fröhlich, bevor er sein Rad in den Wagen schiebt. Das Murren ignoriert er. „Der erste Wagen ist doch der Fahrradwagen?“, fragt der Fahrradschieber scheinheilig, als er meine helle Hose verdreckt. Es ist eine dieser Personen.

Sie erzählt von ihrem Urlaub. „Wir waren in Kenia, hehehe.“ Warum lacht sie nur? „Auf Safari, hehehe.“ Sie stößt am Ende jedes Satzes, den sie sagt, ein hohes keckerndes Lachen aus. „Auf Foto-Safari natürlich, hehehe.“ Sie lacht, weil sie unsicher ist und nicht weiß, ob ich sie für das, was sie getan hat, verurteile. Warum bloß sollte ich die unsichere Weglacherin für eine Urlaubsreise verurteilen? Es ist eine dieser Personen.

Noch keine zehn Minuten kenne ich ihn, und er hat bereits sämtliche Details seines Genitallebens vor mir ausgebreitet. Wo er es treibt. Wie er es treibt. Mit wem er es treibt und treiben möchte. Ich kenne ihn nicht, aber er will mir etwas beweisen. Der Dicke-Eier-Mann zwingt mich, mit ihm in seine dunkelsten Innereien hinabzusteigen. Es ist eine dieser Personen.

Mit weit aufgerissenen Augen kommt er mir entgegen. Schon auf hundert Meter Entfernung erkenne ich ihn. Er wohnt am anderen Ende der Straße, und er will, warum auch immer, unbedingt, dass ich ihn grüße. Ich schaue bewusst zur Seite, auch als er sich auf der Höhe unseres Treffpunkts wie wild räuspert. Er bettelt um Aufmerksamkeit, die ich ihm nicht geben kann. Zum vermutlich letzten Mal bin ich dem Druckgrüßer entkommen. Es ist eine dieser Personen, die zum alltäglichen Personal des Grauens gehören.

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