Vertreibung wird Pflichtstoff im Geschichtsunterricht

Niedersachsens SchülerInnen haben ab jetzt auch das Thema „Vertreibung von Deutschen nach dem II. Weltkrieg“

GÖTTINGEN taz ■ Niedersächsische Schüler der Klassen 9 und 10 müssen sich künftig im Unterricht mit der Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen. Neben den Themen „Zwangsarbeit“ und „Totaler Krieg“ findet sich nun auch der Punkt „Flucht und Vertreibung“ in den neuen Kerncurricula Geschichte. „Es geht darum, die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen in Europa zu beleuchten“, sagte Ministeriumssprecherin Corinna Fischer.

Die Lehrpläne wurden von einer Kommission aus HistorikerInnen und MitarbeiterInnen des Kultusministeriums erarbeitet. „Wir verlassen uns auf den Rat der Fachleute, und die entscheiden nach der Relevanz im fachlichen Diskurs“, sagte Fischer.

„Das Thema ist eines von vielen wichtigen Themen in Verbindung mit dem Nationalsozialismus“, meint Ina Korter, schulpolitische Sprecherin der Grünen im Niedersächsischen Landtag. Allerdings befürchtet die Geschichtslehrerin, dass zu wenig Zeit für die Behandlung des sensiblen Themas zur Verfügung steht. Geschichtslehrerin Korter hofft auf einen kritischen Unterricht, der die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und die Vertreibung in den Kontext der deutschen Kriegsschuld setzt. „Es wird ja wohl niemand unterrichten, der Zweite Weltkrieg sei einfach so über uns hereingebrochen.“

Eine Schwerpunktsetzung auf die Verbrechen der Deutschen fordert Christa Reichwaldt, bildungspolitische Sprecherin der niedersächsischen Linken-Fraktion. „Man muss immer den Kontext berücksichtigen und sich fragen, wer alles ausgelöst hat. Und das waren die Deutschen“, sagte Reichwaldt. Ihre Fraktion will das Thema mit einer parlamentarischen Anfrage begleiten.

Die Historikerin Madlen Benthin aus Leipzig sieht die Voraussetzungen für einen differenzierten Unterricht gegeben. Sie hat zur Thematisierung von Flucht und Vertreibung in deutschen Schulbüchern gearbeitet: „Die neueren Schulbücher setzen die Vertreibung der Deutschen auch immer in den Kontext aller Vertreibungen und Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert. Man versucht es diskursiv anzugehen und alle Beweggründe von Vertreibung zu vermitteln“, sagte die Wissenschaftlerin.

Ob die LehrerInnen sich aber an die Inhalte der Schulbücher halten, wird die Praxis zeigen. Ihnen wird zwar nahegelegt, nah an den Büchern zu arbeiten, jedoch haben sie einen eigenen Entscheidungsspielraum. „Wenn es ältere Lehrer sind, stehen die ja auch in der Tradition dessen, was sie in der Schule gelernt haben, und können da möglicherweise nicht mehr raus“, beschreibt Benthin ein generelles Problem der Vermittlung zeitgeschichtlicher Themen in der Schule.

Der niedersächsische Landesbeauftragte für Heimatvertriebene, Rudolf Götz (CDU), befand schon vor zwei Jahren, es müsse eine „Selbstverständlichkeit sein, die nachgeborenen Generationen an die Geschichte von Flucht, Vertreibung und Neubeginn unter schwierigen Verhältnissen zu erinnern.“ Diese Selbstverständlichkeit wünscht sich die Lehrerin und Grünen-Abgeordnete Korter auch für die Behandlung aktueller Fluchtbewegungen. „Den Gegenwartsbezug könnte man gut herstellen, indem man den Umgang des Landes Niedersachsens mit Flüchtlingen und Asylanten thematisiert.“ BENJAMIN LAUFER