„Der Sozialismus, so wie er war, hat keinen Spaß gemacht“

Als am 21. August 1968 Panzer des Warschauer Pakts in Prag einrollen, ist Toni Krahl empört. Der spätere Sänger der DDR-Supergruppe „City“ demonstriert vor der Botschaft der UdSSR – und geht dafür in den Knast. Auch als Bandleader wagt er den Spagat zwischen Unangepasstheit und Linientreue, so der 58-Jährige, der betont: „Ich war ein loyaler Bürger“ Interview: Gunnar Leue, Fotos: Rolf Zöllner

Toni Krahl wird am 3. Oktober 1949 in Berlin geboren und wächst in einem kommunistischen Elternhaus auf. Sein Vater war aktiver Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime gewesen. Krahl gründet 1968 die erste Band. Am 21. August desselben Jahres marschieren Truppen des Warschauer Pakts in Prag ein: Ihre Panzer schießen die Demokratiebewegung nieder und beenden den sogenannten Prager Frühling.

1975 wird Krahl Sänger von „City“, die mit dem Song „Am Fenster“ 1977 (auch im Westen) einen Hit ländet, der seither als der größte der DDR gilt. City versucht oft den Spagat zwischen kommerziellem Erfolgsstreben und unangepasstem Auftreten. Ihr Album „Casablanca“ erregt 1987 Aufsehen mit den für eine etablierte DDR-Band selten deutlichen Songtexten, die unter anderem die Teilung Berlins thematisieren. Im September 1989 wird Krahl Mitinitiator der Resolution der DDR-Rockmusiker für die Demokratisierung des Landes.

Am 25. Oktober 1989 beteiligt er sich am Konzert „Hierbleiber für Hierbleiber“ im Haus der Jungen Talente. 1990 wird er zum Vorsitzenden des Verbandes Musik-Szene e. V. gewählt. Im selben Jahr gründet er mit „City“-Gitarrist Fritz Puppel das erste unabhängige DDR-Label KPM Records. Mit „City“ produziert Toni Krahl, der mit Frau und kleiner Tochter in Glienicke lebt, immer noch Platten und tourt durch die Lande.

taz: Herr Krahl, Sie waren ein Rockstar in der DDR. Aber kaum jemand wusste, dass Sie vor 40 Jahren gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag auf die Straße gingen und deshalb im Gefängnis saßen.

Toni Krahl: In meiner Band wusste es natürlich jeder. Ansonsten war es kein Thema, ich wollte es auch nie vor mir hertragen. Ich bin kein rückwärtsgewandter Mensch. Deshalb habe ich mich nie großartig mit der damaligen Zeit befasst – bis vor kurzem.

Warum erst jetzt?

Ich hatte schon vor zehn Jahren Einsicht in meine Stasiakten beantragt, erhielt aber nur drei Zettel, woraus ich mir einiges zusammenreimen konnte. Ich dachte dann: „Ach, lass es sein, warum in ein Wespennest pieken?!“ Als vor einigen Monaten ein Autor für eine Buchrecherche über 1968 in der DDR aus meinen Akten zitieren wollte, besorgte ich mir sie doch. Beim Lesen merkte ich, dass ich viel von damals verdrängt habe und dass es wirklich kein Jux war, was mir passiert war. Als 18-Jähriger hatte ich das gar nicht richtig ernst genommen.

Sie saßen drei Monate im Gefängnis. Kann man das verdrängen?

Natürlich ist das in meinem Kopf alles präsent, aber aus den Stasiakten erfuhr ich erst die ganzen Details: Vernehmungsprotokolle, Zeugenaussagen, Einschätzung von der Schule, von Mitschülern, Anklageschrift – alles ist aufgezeichnet. Auch das ganze Drumherum um meinen Vater, der beim Neuen Deutschland als Redakteur gearbeitet hatte.

Waren Sie vor der Verhaftung politisch besonders interessiert?

1968 war ich 18 und interessierte mich für das Übliche in dem Alter: Mädchen, Musik. Meine Helden waren die Beatles und Rolling Stones, aber auch politische Figuren wie Che Guevara oder Ho Chi Minh faszinierten mich. Es gab in der DDR genau wie im Westen eine Aufbruchstimmung aus dem Gefühl heraus, dass der Sozialismus, so wie er war, keinen Spaß macht. Das hatte mit politischem Denken wenig zu tun. Ich habe mich nicht mit Leitartikeln befasst, schon gar nicht mit denen von meinem Vater.

Ihr Vater war aktiver Nazi-Widerstandskämpfer und überzeugter Kommunist. Konnten oder wollten Sie trotzdem gegen ihn rebellieren?

Ich hatte schon genügend Anlässe. Ich war mit meinem Vater absolut nicht einer Meinung über politische Dinge. Allerdings hatte er eine sehr hohe Toleranzgrenze. Er hatte nichts gegen meine Musik, Klamotten und langen Haare. Aber er wusste, dass seine Partei das anders sah. Deshalb betete er mir immer vor: Wer besondere Leistungen vollbringt, kann sich Extravaganzen leisten und die Haare bis zum Hintern wachsen lassen. Er erwartete von mir ein Abi mit eins. Weil ich damit nicht dienen konnte, sollte ich schön den Ball flach halten.

Daran haben Sie sich nicht gehalten, als am 21. August 1968 die Truppen in Prag einmarschierten.

Es gibt wahrscheinlich in jedermanns Leben ein, zwei Situationen, wo man sich entscheiden muss. Für mich war es damals so eine.

Hatten Sie irgendwelche Beziehungen nach Prag?

Indirekt. Zum einem hatte ich mit dem Prager Frühling die konkrete Erwartung verbunden, dass der in die DDR ausstrahlen würde; dass auch bei uns alles bunter und lebenswerter würde. Außerdem sagte mir meine pazifistische Grundhaltung, dass man keinen Konflikt mit Waffengewalt und Panzern lösen dürfe. Und schon gar nicht dürften Deutsche dort einmarschieren. Meine Eltern hatten während der ersten Nazijahre in Prag Asyl gefunden. Meine Großeltern ebenso. Das Land war für mich wie eine familiäre Schutzmacht.

Was haben Sie getan, als Sie die Nachricht vom Einmarsch hörten?

Ich habe ich mich sofort mit ein paar Freunden abends in der Mocca-Milch-Eisbar in der Karl-Marx-Allee getroffen, um ihre Meinung zu hören. Mit zwei Freunden fuhr ich am nächsten Tag zur ČSSR-Botschaft in Pankow, um unsere Sympathie zu bekunden. Das Gebäude war zwar bewacht, aber wir kamen irgendwie rein. Ich schrieb auf einem Zettel, dass wir gegen den Einmarsch sind und volle Solidarität mit Parteichef Alexander Dubček und seinen Genossen üben, und übergab den. Im Gegenzug bekam ich ein paar Fotokopien über den nicht von Moskau genehmigten 14. KPČ-Parteitag in die Hand gedrückt.

Das war Ihr ganzer Protest?

Nein. Danach habe ich in den Jugendtanzklubs junge Leute angesprochen, dass sie am 25. August, 16 Uhr, alle zu einer Schweigekundgebung vor die Botschaft der UdSSR Unter den Linden kommen sollten. Am Termin erschien ich mit wenigen Kumpels vor Ort; mit kleinen ČSSR-Fähnchen standen wir da mit ungefähr 60 Leuten. Daneben gab es aber auch Grüppchen von Stasileuten mit Ledertäschchen und Anoraks.

Was passierte dann?

Kurz vor 16 Uhr fuhren Polizeiautos vor. Jede Menge Uniformierte kontrollierten die Ausweise. Da sind wir abgehauen und flüchteten in das Auto meines Vaters, der zufällig aus seiner Redaktion in der Nähe kam. Das war’s eigentlich mit der Demo.

Sie wurden gar nicht verhaftet?

Erst drei Wochen später, am 13. September, nachdem die Stasi andere Beteiligte verhört und mich ein „Freund“ verraten hatte. Ich wurde von der Polizei in die Keibelstraße einbestellt zur „Klärung eines Sachverhalts“, früh um 8. Um 22 Uhr kam der Haftrichter, der mir den Haftbefehl vorlas. Und dann ging’s ab in die U-Haft ins Pankower Stasigefängnis in der Borkumstraße. Als die schwere Eisentür in der Zelle zuknallte, das Licht aus war und ich auf meiner Klapppritsche lag, habe ich erstmals geschluckt. Die ganze Anspannung des Tages durch die Verhöre fiel ab und ich überlegte: Bist du jetzt ein Verbrecher, hast du was Falsches gemacht oder gesagt?

Was wurde Ihnen konkret vorgeworfen?

In der U-Haft wurde ich vier Wochen vormittags und nachmittags verhört, die suchten wohl Hintermänner. Immer wieder fragten sie, was ich vor der Botschaft wollte, warum ich gegen den Einmarsch in Prag sei. Ich antwortete ganz ehrlich: Weil ich das nicht gut finde. Anfangs glaubte ich noch, die schicken mich bald wieder weg, um die Sache in der FDJ-Gruppe weiterzudiskutieren. Ich hätte nie im Leben erwartet, dass sie mich einsperren. Ende November wurde ich zu drei Jahren wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilt.

Die mussten Sie aber nicht absitzen.

Kurz vor Weihnachten wurden die Urteile gegen alle unter 27-Jährigen in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Einige wurden später auch in den Westen abgeschoben wie meine Bekannte Bettina Wegner, die Liedermacherin.

Was geschah mit Ihnen?

Ich durfte mich zwei Jahre in der sozialistischen Produktion bewähren, als Blechschlosser im VEB Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ in Weißensee. Allerdings war ich kein sehr fleißiger Kollege. Wenn ich nicht spurte, drohten immer die drei Jahre Knast. Als die Zeit um war, habe ich sofort gekündigt.

Was sagte Ihr Vater zur Entwicklung seines Sohnes?

Der war sofort nach meiner Verhaftung beurlaubt und später ins ND-Archiv versetzt worden. Er war ein gebrochener Mann. Aber wir sind seitdem blendend miteinander ausgekommen.

Hatten Sie fortan einen anderen Blick auf die DDR?

Ich war ein loyaler Bürger. Als mir mein Rechtsanwalt Wolfgang Vogel in der Haft sagte, ein Ausreisewunsch in den Westen würde meine Entlassung beschleunigen, war das für mich unvorstellbar. Leute wie Rudi Dutschke und Fritz Teufel fand ich schon toll, aber was sollte ich im Westen? Ich wollte zu Hause ein schönes Leben mit viel Spaß und Freude. Außerdem glaubte ich, dass es sehr wohl Spaß machen konnte, einen gerechten Staat aufzubauen.

„Ich bin aufrecht durch mein Leben gegangen und habe auch einige Kompromisse geschlossen. Einer war vielleicht, dass ich sagte: Ich lebe in der DDR“

An den glaubten Sie nach der Entlassung noch?

Ich hatte durchaus den Eindruck, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Wegen meiner Bewährungsstrafe wollte ich erst mal nicht allzu böse auffallen. Als die um war, suchte ich mir meine Nische. Ursprünglich wollte ich Schauspieler oder Journalist werden, aber studieren durfte ich nicht mehr. Also suchte ich einen Weg in die Musik. Nachdem ich wie viele Musiker eine Zeit offiziell als Telegrammbote auf Honorarbasis angestellt war, wurde ich 1973 Profimusiker. Damit hatte ich mich dem großen Drill in der Gesellschaft entzogen.

Ging das noch, als Sie mit Ihrer Band „City“ erfolgreich wurden?

Politisch hatte ich mich in der DDR erst mal nicht mehr eingemischt. „City“ war auch keine Politrockband, wir haben die Alltagsprobleme von jungen Leuten beschrieben. Trotzdem blieben Konflikte nicht aus. So wurden auch wir nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 abgefordert, ein Bekenntnis zu der Maßnahme zu unterschreiben. Daraufhin gab es Krach mit dem Management der Band, weil einige meinten, wir sollten das aus Rücksicht auf unsere weitere Karriere tun. Da habe ich dann gedroht: Solange ich in der Band bin, unterschreibt keiner.

1988 wurden Sie dennoch Vorsitzender der Sektion Rockmusik beim Komitee für Unterhaltungskunst der DDR. Für viele junge Bands klang das nach Staatsnähe.

In der DDR gab es keine Gewerkschaft für freischaffende Musiker. Der Staat wollte die aber auch irgendwie einbinden und wissen, was die so umtreibt. So entstand das Komitee mit Sektionen für Liedermacher, Schlager, Rock. In der waren so ziemlich alle Bands Mitglied. Uns ging es um Dinge wie Studiokapazitäten, wie kommen wir an Lkw-Reifen, Trommelstöcke und Reisegenehmigungen. Die Funktionäre wiederum hatten Ansprechpartner für „Rock für den Frieden“.

Den jungen, sogenannten anderen Bands brauchte man damit nicht zu kommen. Warum zeigten Sie sich kooperativer?

Vielleicht sogar aus einer gewissen Protesthaltung heraus. Viele in der Szene hofften damals auf neuen Wind aus Moskau. Obwohl ich dachte, etwas gegen die Betonköpfe bewegen zu können, war die Funktion für mich ein Eiertanz. Und nach der Wende gab es auch einige Leute, die „City“ deswegen zu einer staatstragenden Band erklärten. Das stimmt insofern, als jeder in DDR staatstragend war, der morgens zur Arbeit ging. Ich bin aufrecht durch mein Leben gegangen und habe auch einige Kompromisse geschlossen. Einer war vielleicht, dass ich sagte: Ich lebe in der DDR.

Wie empfinden Sie heute den ganzen Gedenkrummel um 1968 und die 68er?

Wenn man von 68 spricht, wird der Fokus immer auf Dutschke und die Kommune 1 gerichtet. Dabei war der Gipfel der gesamten Bewegung das, was in Prag passierte und nicht in der Kommune 1.