Ruhe macht Angst

Chinas Justiz lässt während der Spiele alle heiklen Fälle ruhen. Sie fürchtet, Urteile könnten sonst eine internationale Debatte über das chinesische Rechtswesen entzünden

Bewaffnete Polizisten stehen rund um die Uhr in Alarmbereitschaft. Verwaltungsbehörden werden selbst in entlegenen Provinzen dazu angehalten, alle Konflikte vor Ort ruhen zu lassen. Denn niemand soll es wagen, nach Peking zu kommen, um eine Petition bei der Zentralregierung einzureichen. Lange vor Beginn der Olympischen Spiele wurde Chinas kompletter Staatsapparat in Gang gesetzt, um „die Sicherheit und Stabilität im Lande, insbesondere in der Hauptstadt Peking, zu gewährleisten“, wie es offiziell heißt. Besonders die in der Hauptstadt berüchtigten Straßenkomitees sind im Dauereinsatz. Sie bestehen zumeist aus Rentnern, jeweils zu erkennen an einer roten Armbinde, und sind eifrig darum bemüht, auch nur geringe Ordnungswidrigkeit von vornherein zu verhindern. Doch eine Behörde pausiert: das chinesische Justizwesen.

Yang Jia, ein Arbeitsloser aus Peking, hatte im Juli in Schanghai ein Polizeirevier überfallen und sechs Polizisten mit einem Messer umgebracht. Sein Fall ist bislang unbearbeitet geblieben. Auch Liu Xiao, ein Rechtsanwalt, der bei der Klage seines Mandanten gegen Ausraubung seiner Wohnung durch Immobilienhaie selbst der vorsätzlichen Zerstörung von Vermögenswerten Dritter bezichtigt wird, muss jetzt warten, bis sein Fall vor Gericht verhandelt wird. Beide Fälle haben eines gemein: Solange die Spiele in Peking andauern, wird es keine Gerichtsverhandlung geben. Diese Justizpause kommt nicht von ungefähr. Die Zentralregierung will während der Spiele nicht das Risiko eingehen, wegen womöglicher umstrittener Urteile im Justizwesen international an den Pranger gestellt zu werden.

Doch womit die Regierung anscheinend nicht gerechnet hat: Die Empörung kommt jetzt aus dem eigenen Land. Seit Beginn der Spiele am 8. August toben in so gut wie allen relevanten Diskussionsforen im Internet lebhafte Debatten, warum die Justiz in Schanghai ohne Begründung in einem so schweren Mordfall wie bei Yang Jia die Gerichtsverhandlung einfach verschoben hat. Auch der bisher unbehandelte Fall eines Vergewaltigers in der Provinz Guizhou, der sich im Juni an einem Mädchen vergangen hat und sie anschließend tötete, löst im Netz große Empörung aus. Der Fall hatte damals schwere Unruhen ausgelöst. Laut offiziellen Angaben gab es lediglich Festnahmen von Protestierenden. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht hüllen sich bislang in Schweigen.

Dabei mangelt es der Regierung auch ohne die ungeklärten Justizfälle nicht an Negativschlagzeilen: Die beiden Börsen in Schanghai und Shenzhen sind seit Beginn der Spiele schon um 5 Prozent gefallen. Der bereits seit einiger Zeit befürchtete Preissturz auf dem völlig überhitzten Immobilienmarkt scheint mit jedem Tage näher zu rücken. Und auch das Parteiorgan Renmin Ribao lässt mit drei Leitartikeln hintereinander keinen Zweifel daran, dass China unmittelbar nach den Spielen mit großen Konjunkturproblemen zu kämpfen haben wird. Im Vergleich zu diesen Krisenherden würden die wenigen Justizfälle in der Öffentlichkeit kaum ins Gewicht fallen, heißt es bei den Internetnutzern.

Einige Netznutzer befürchten, dass das Justizwesen sich momentan zurückhält, nur um nach den Spielen mit umso drakonischeren Strafen zuzuschlagen. „Qiuhou suanzhang“ nennt sich diese Art der Praxis, was übersetzt so viel bedeutet wie „die Generalabrechnung nach der Herbsternte“. Die wiederum zeigt bereits ihre Wirkung. Sie dient zur präventiven Abschreckung.

SHI MING