Engel unter Egoshootern

In „Heidizeit. Was danach geschah“ im Bikinihaus collagiert die Regisseurin Uta Kala den Kinderbuchklassiker und legt ihn zusammen mit Sartre- und RAF-Fantasien

VON ANNE PETER

Ausgerechnet Heidi! Diese Verkörperung harmonieglöckelnder Alpenidylle sitzt am Ende als Heidrun Ensslin vor der Glasfront, neben ihr Geißenbaader und Klara Meinhof, und imaginiert vor der Kulisse von Gedächtniskirche und Ku’damm die brennenden Kaufhauskulisse von Frankfurt am Main. Endlich glühen die Berge wieder – ein Stück Heimat, welch Trost!

Herzensgute Wesen

Nach dieser Variante hat es das mutter- und vaterlose Gutmenschenkind, das von der Job suchenden Tante auf die Alm zum Großvater abgeschoben wird, nicht ins Frankfurter „Herrenhaus“ verschlagen, wo sie der rollstuhlgefesselten Klara als Gefährtin bzw. „Schweizer Spielzeug“ dienen soll, sondern ins Bikinihaus am Breitscheidplatz. Dessen dritter Stock beheimatet in diesen Tagen die Theater-Musik-Installation „Heidizeit“.

Das ursprünglich offene Luftgeschoss, das obere und untere Stockwerke trennte und dem 50er-Jahre-Bau seinen Namen einbrachte, wurde später auf ganzer Breite verglast. Das macht die Kunst jetzt durchlässig für die Realität der Stadt als die von beiden Seiten auf Heidi eindringende Fremde. Nach hinten raus der Zoo mit seiner eingepferchten Natur, nach vorn die oll gewordenen Konsummeile – das geradezu perfekte Setting für Uta Kalas Neulektüre des 1880/81 erschienenen Kinderbuchklassikers von Johanna Spyri.

Dass die Regisseurin, die bisher vor allem als Bühnen- und Kostümbildnerin tätig war, diesem verschmalzten Stoff dabei derartig neue Seiten abgewinnt, überrascht allemal. Gemeinsam mit dem jungen Autorenteam (Johannes Kraak und David Lindemann) dekonstruiert Kala das Almmärchen zur durchgeknallten Assoziationscollage. Klar fokussiert allerdings legt sie den durchaus vorhandenen sozialen Kern der Vorlage frei, das Machtgefüge, die Besitzansprüche und den Narzissmus der Figuren. Ob Doktor, Ziehvater oder Extremistenfreundin, alle fordern sie ihren „Anteil an einem herzensguten Wesen, das uns allen zu gleichen Teilen zusteht“. Ein Engel unter Egoshootern.

„So, jetzt wehr dich mal!“, fordert Lisa-Marie Jankes Klara, der Heidis willenloses Dulder- und Rechtmachertum gehörig auf den Wecker gehen, unerbittlich resolut. Unter Anstachelung der verkopften Freundin wird das Allerliebkind – frei nach Sartres „Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch“ – im Laufe der Eindreiviertel-Spielstunden schließlich zu Heidrun bzw. Gudrun Ensslin. Mit dem Geißenbaader, dem „dummen Peter“ (bullig radebrechend: Pretrag Kalaba), krakeelt übrigens eine punkig-prekäre Ziegenrotte über die dreiräumige Breitwandbühne – „Wir wollen mä-mä-mä-mehr!“.

Die Details dieses ambitionierten Off-Projekts sind liebevoll gestaltet: von der (bereits während der Probezeit und nach den Vorstellungen) begehbaren Bühneninstallation mit Rollrasen, Styroporgipfeln und zum roten Stern gepflanzten Geranien über die von Grzegorz Olszowska eigens getexteten Songs bis hin zu den clownesk überdrehten Kostümen.

Pollesch-Marx-Alm-Ödi

„Heimat muss man sich erarbeiten. Das ist eine Arbeit, die ich leisten muss“, sagt Heidi und klingt dabei streckenweise gewaltig nach René Pollesch, der in seiner „Heidi Hoh“-Serie einst selbst gewissermaßen das Heimatloswerden durch entfremdete Arbeitsverhältnisse in den Blick genommen hatte. Und zugehen tut es in dieser Raubein-Performance bisweilen auch ziemlich volksbühnenhaft. Zumal Castorf-Spieler Frank Büttner gelungen einen herrisch brüllenden Karl-Marx-Alm-Ödi abgibt. Gegen Ende singt Catherine Janke von ihrem „Riesenherz“, um sich schließlich das „schön!“, „lieb!“ und „nett!“ vom Leibe zu schreien.

Was anfangs noch als hanebüchen waghalsige Konstruktion erscheint, der Verschnitt von Alpentrio und RAF-Kerntruppe, wird von Kala erstaunlich schlüssig aus der These von der Geburt des Terrorismus aus dem Geiste der (verschieden auslegbaren) Heimatlosigkeit entwickelt. Am Ende wird so Heidis Traum von der Alb zum Albtraum.

Weitere Termine: vom 21. bis 24. und vom 27. bis 31. 8. 08, jeweils 20 Uhr. Bikinihaus, Budapester Straße 46, 10787 Berlin-Charlottenburg