In der Auslaufrille

Romantisch wirkt hier gar nichts: Selbst noch zum Partysound getanzt ist der Hiphop der Membros Cia. de Dança, die aus Macaé zum Tanz im August anreisten, von Angst und Bedrohung geprägt

VON JAN KEDVES

Macaé, 180 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro, ist eine Ölstadt mit rasant wachsenden Favelas und einer der höchsten Mordraten Brasiliens. Taís Viera und Paulo Azevedo, zwei Choreografen, haben hier vor neun Jahren die Kompanie Membros Cia. de Dança ins Leben gerufen. Wie innovativ diese Gruppe die Bewegungsstile des Hiphop interpretiert, lässt sich auf YouTube sehen. Dort findet sich ein Video, in dem die Gruppe auf einer Straße performt. Einer der Tänzer lehnt easy an einer Hauswand, er wirkt irgendwie bekifft, ein anderer robbt sich paranoid an der Wand entlang, dann beginnen beide mit den üblichen am Boden getanzten Spinnenbein- und Kopfschraubfiguren.

Doch irgendwie wirken ihre Moves seltsam unbalanciert, unrhythmische Zuckungen durchschießen die Glieder, als ob sie versuchen müssten, beim freizeitlichen Downrocking dem Kugelhagel eines vorbeirollenden Killerkommandos auszuweichen. Die Tänzer fliegen durch die Luft, knallen gerade auf das nackte Kopfsteinpflaster. In Macaé, so scheint es, gibt es für B-Boys und B-Girls nicht mal Wellpappe, die sie zwischen sich und den Stein legen können.

Auf dieser Ebene, auf hartem „street level“, und mit genau derselben körperlichen Drastik spielt auch das Stück „Febre“, das die Gruppe jetzt für das Festival Tanz im August in den Sophiensælen zeigte. Acht Tänzer – zwei Frauen, sechs Männer – entfernen sich innerhalb von sechzig Minuten weit vom bekannten Figurenrepertoire des B-Boyings. Hiphop wird hier nicht als festgeschriebener Tanzstil verstanden, sondern als Plattform, von der aus sich ein furioses, raffiniert mit Klischees arbeitendes, poetisches und zugleich hochpolitisches Tanztheater entwickeln lässt. Arbeitslosigkeit, Armut, Angst sind die Themen, die die Bewegungen der Tänzer informieren, genauso Drogensucht, Prostitution und Missbrauch. Die Rhythmen dazu schälen sich über weite Strecken aus dem geloopten Knacksen der Auslaufrille einer Schallplatte. Die Botschaft, unmissverständlich: Menschen, deren Soundtrack eine Leerrille ist, befinden sich im Leben auf dem Abstellgleis.

Das wiederkehrende Motiv, das Membros in „Febre“ verwenden, ist passenderweise das Fallen: Immer wieder knallen die Tänzer – wie auch in dem YouTube-Video – mit dem Rücken auf den Boden, als sei ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Wenn sie Sprünge vollführen, dann nicht, um einen Triumph über die Schwerkraft zu behaupten, sondern um hartes Runterkommen zu demonstrieren. Ein Tänzer hechtet einem auf dem Bauch Liegenden mit voller Wucht in den Rücken; ein anderer stürzt von der Rückwand der Bühne; alle kippen wieder und wieder rückwärts und schlagen mit Schultern und Nacken auf den Boden.

Es ist ein unfassbar schmerzhafter und verschleißintensiver Tanz, den Membros hier vorführen. Doch wirkt er nie so, als wollten sich die einzelnen Tänzer der Gruppe überbieten, im Sinne eines martialischen „Wer ist hier der Härteste?“. Die Bewegungen bleiben stets Abbilder struktureller Gewalt und der Logik der Eskalation, die nicht nur die Heimat der Tänzer, sondern letztlich die ganze Welt beherrscht.

„Febre“ hinterlässt den Zuschauer so gleichermaßen betroffen wie begeistert, ebenso verstört wie der Einsicht versichert, dass Tanz nicht zum Klischee erstarren muss, um auf internationalen Festivals Beachtung zu finden, sondern dass er radikal gesellschaftliche Missverhältnisse ansprechen kann.

Lediglich ein einziges Mal, längst gegen Ende des Stücks, tanzen die Männer synchron, für einige Sekunden zeigen sie eine generische Hiphop-Choreografie, wie sie in jedem Musikvideo zu sehen sein könnte. Dazu knallen die Beats des brasilianischen Baile Funk aus den Boxen, jenes elektronisch produzierten Partysounds, den man hierzulande als heißen Favela-Getto-Funk zu erkennen und zu romantisieren gelernt hat. Romantisch wirkt hier allerdings gar nichts, die Tänzer haben sich anonymisiert, mit einfachen Handgriffen knoten sie sich aus ihren T-Shirts Vermummungen: Membros gelingt mit dieser Einlage auf sehr schlaue Weise nicht zuletzt ein schonungsloses Vorführen der Erwartungshaltung, die ein westliches Publikum an eine brasilianische Tanzkompanie hat.