„Marx wird verkannt“

In der Johanniskirche in Hamburg-Altona wird das „Kommunistische Manifest“ als Performance dargestellt. Regisseur Christian Gefert sieht Marx dabei nicht so sehr als politischen Denker, sondern als Analysator von Ausbeutungsverhältnissen. Die können privat sein, müssen es aber nicht bleiben

CHRISTIAN GEFERT, 40, studierte Philosophie, Pädagogik und Geschichte in Hamburg und versucht seit den 90ern, Philosophie als Theater zu inszenieren. Er ist Promotionsstipendiat des Graduiertenkollegs Ästhetische Bildung der Universität Hamburg. Promotion mit einer Didaktik theatralen Philosophierens an der Universität Hamburg, zurzeit arbeitet er in der Behörde für Schule und Berufsbildung.

INTERVIEW: DANIEL WIESE

taz: Herr Gefert, was hat das Kommunistische Manifest in einer Kirche zu suchen?

Christian Gefert: Das ist die spannende Frage für dieses Projekt. Man muss dazu sagen, dass wir im letzten Jahr hier schon Nietzsche gemacht haben.

Sie haben da nicht die Kanzel zertrümmert, sondern Luftballons herabschweben lassen.

Diesmal ist es etwas revolutionärer.

Wobei Nietzsche ja auch revolutionär war, oder?

Nietzsche wollte „mit dem Hammer“ philosophieren. Aber ich denke, der Anspruch von Marx ist der einer kollektiven Revolution. Die Idee war, nach Nietzsche, der ein prominenter Religionskritiker war, jetzt auch Marx in die Johanniskirche zu holen.

Für Marx ist Religion Opium des Volkes, und er spricht verächtlich von „Pfaffen“. Marx glaubt, dass Religion der Revolution extrem abträglich ist.

Genau und das ist sicherlich auch der Reiz, diesen neogotischen Raum, der im 19. Jahrhundert gebaut wurde, um die Arbeiterschaft hier in Schach zu halten, diesen Raum jetzt mit der Ideologie zu konfrontieren, die maßgeblich zu seiner Größe beigetragen hat.

Was sagt der Pastor zu dem Projekt?

Der unterstützt das hier, das ist ja das Großartige.

Aber Marx will die Religion wirklich abschaffen!

Wir machen hier ja weder für Nietzsche noch für Marx eine Propaganda-Veranstaltung, das muss man deutlich sagen. Wir machen theatralisches Philosophieren. Wir versuchen, der Philosophie von Marx eine performative Gestalt zu geben, wie Sie es eben mit den Luftballons beschrieben haben. Das ist ein Bild gewesen, das wir entwickelt haben, und solche Bilder suchen wir jetzt wieder in diesem Kirchenraum.

Sie sind nicht Marxisten, sondern Sie stellen das bloß dar.

Mit allen positiven und negativen Aspekten. Es geht uns schon darum zu sagen, dass vieles heute noch sehr aktuell und spannend ist. Es geht aber auch darum, eine differenzierte Analyse vorzulegen, eine theatrale Analyse. Auf keinen Fall ist das eine marxistische Kaderveranstaltung.

Schade! Das wäre interessant gewesen.

Uns geht es in erster Linie um die gesellschaftliche Utopie von Marx, deshalb bespielen wir auch das „Kommunistische Manifest“. Dort wird eine Utopie formuliert, und es wird eine ganz starke Gesellschaftskritik deutlich, und die Frage ist, ob diese Kritik tragfähig ist.

Und? Ist sie?

An bestimmten Punkten hat er sich sicherlich geirrt, zum Beispiel was die Solidarisierungskräfte des Proletariats angeht, da hatte er ja hohe Erwartungen.

Und wo hatte Marx recht?

Natürlich ist das Verhältnis zwischen Proletariern und Bourgeoisie sehr interessant, wenn man nicht die Grenze da zieht, dass man sagt, es gibt nur den Proletarier, der in einer Fabrik schwitzt, und den Bourgeois, der an seiner Zigarre zieht. Sondern wir alle tragen in uns Teile von Ausbeutern und Ausgebeuteten, das kann man deutlich machen an unserem Konsumverhalten, das werden wir zu Ausbeutern …

Wen beuten wir aus?

Ich will das jetzt nicht mit marxistischen Begriffen belegen, aber wir tragen unseren Teil dazu bei, dass eine Akkumulation des Kapitals stattfindet, eine Ausbeutung in der Dritten Welt von Menschen, die da unter schwierigen Bedingungen produzieren.

Sie meinen, wir profitieren von den Billigarbeitern.

Wir alle sind Schnäppchenjäger, wir tragen unseren Teil dazu bei. Auf der anderen Seite gibt es viele, die Anfang zwanzig sind, die sich als Generation Praktikum verstehen, die teilweise in hoch ambivalenten Arbeitsverhältnissen stehen.

Das „iPod-Proletariat“, wie Sie in Ihrer Ankündigung geschrieben haben. Und wo ist die Kommunistische Partei, die den Ausgebeuteten zum Sieg verhilft?

Da bin ich ein bisschen skeptisch, auch aus den historischen Erfahrungen heraus. Ich glaube weniger, dass dieser Text interessant ist als Manifest einer Partei, sondern im Sinne eines individuellen Manifests, um sich aus bestimmten Ausbeutungsverhältnissen zu befreien. Die große Frage, die wir uns stellen, ist die nach der Solidarität. Wie kann man sich jenseits dessen, was Marx als Konkurrenzverhältnis zwischen Proletariern beschreibt, in irgendeiner Weise zusammenschließen?

Aber wenn es individuell ist, warum sollten uns die anderen interessieren? Oder denken Sie da an die christliche Nächstenliebe?

Das sind die Schnittstellen, die interessant sind, aber ich würde es gar nicht christlich deuten. Ich würde eher sagen, das steht in bester humanistischer Tradition. Marx steht in einer Tradition der Aufklärung, indem er Menschen, die in einer Situation leben, in der sie ihr Ausbeutungsverhältnis spüren, aber nicht beschreiben können, versucht Begriffe zu liefern, damit sie sich aus diesem Verhältnis befreien können.

Von welchen Ausbeutungsverhältnissen sollen wir uns denn befreien?

Die Generation Praktikum habe ich erwähnt, aber es gibt auch familiäre Ausbeutungsverhältnisse. Wir alle haben noch diesen Werbespot der Sparkasse vor Augen, wo der Säugling in den Armen seines Vaters schon als Altersversicherung gesehen wird. Mittlerweile werden gerade Kinder auch als Kapital ihrer Eltern gesehen, in die man viel investiert, und die müssen sich dann auch dementsprechend verhalten.

Aber diese Verhältnisse sind privat, da kann man sich ja immer nur selbst draus befreien.

Das ist die Frage. Oftmals fehlen uns ja die Begriffe. Ich glaube, die entscheidenden Punkte sind zum Beispiel: Kann ich meine Familie auch als etwas anderes verstehen als den Hort emotionaler Geborgenheit? Kann ich meine Familie auch so beschreiben, dass ich mich mit anderen darüber verständigen, wo wir ausgebeutet werden, zum Beispiel von unseren Eltern?

Marx wollte die Welt nicht nur verstehen, sondern verändern.

Aber diese Hoffnung haben wir ja. Wir werden danach auch noch eine Diskussion mit den Zuschauern machen, und wir hoffen, dass viel revolutionäres Potential zusammenkommt.

Aber wenn es um die Lebensverhältnisse geht, steht Marx dann nicht in Konkurrenz zu Esoterik-Angeboten? Da geht auch darum, wie wir mit unserem Leben besser klarkommen.

Ich würde Ihnen da widersprechen. Das ist nicht esoterisch. Ich denke, dass ein großes Potential von Marx verkannt wird, nämlich das philosophische. Im besten Sinne kann Marx helfen, sich selbst zu erkennen. Marx ist immer als ein Gesellschaftstheoretiker gesehen worden, der im großen die Dinge verändern will. Aber was ist mit dem Philosophen Marx? Dem Marx, der versucht hat, die Dialektik von Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen?

Sie denken Marx entpolitisiert, als Light-Version.

Das sagen Sie jetzt. Im Persönlichen liegt auch eine politische Dimension, und die würde ich nicht verkennen. Das ist vielleicht genau der Punkt, an dem wir jetzt stehen und an dem wir Marx anders befragen sollten.

„Marx – Das Manifest“, 28.–31. 8., 20 Uhr, Hamburg, St. Johannis Kirche, Max-Brauer-Allee 199. Eintritt frei, um Spenden wird gebeten