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Archiv-Artikel

Übergewichtige als Kostenfaktor

Übergewichtige belasten die Krankenkassen mit enormen Zusatzkosten. Rund 70 Milliarden Euro jährlich sollen es angeblich sein. Doch das stimmt so nicht, sagen einige Experten. Für eine realistische Einschätzung fehlen die dazu notwendigen Studien

VON KATHRIN BURGER

Was müssen sich Übergewichtige dieser Tage nicht alles anhören: Es sei unverantwortlich, so viel fetttriefende Pommes und Eiscreme vor der Glotze oder beim Powergaming in sich hineinzustopfen. Oder: 70 Milliarden Euro koste es das Gesundheitssystem jährlich, wenn jemand überbordend dicke Hüften mit sich herumschleppe. Schließlich erkranken Übergewichtige doch häufiger an Diabetes, an Herzinfarkt sowie Brust- und Dickdarmkrebs und sterben früher, so wird gemeinhin unterstellt. Kurzum: Der Bierbauchträger, die Michelin-Frau und ihr moppeliger Nachwuchs gelten heute als undiszipliniertes Pack, das endlich, wenn nötig mit Mehrkosten für die Krankenkasse, für ihre Völlerei zur Verantwortung gezogen werden müsse.

Doch sind Übergewichtige tatsächlich so viel teurer als andere Zeitgenossen? Uwe Helmert, Sozialwissenschaftler am Bremer Zentrum für Sozialpolitik, bezweifelt dies in einem aktuellen Bericht für das Bildungsministerium. Denn die lebenslang entstehenden Gesundheitskosten eines Menschen sind schwer zu kalkulieren.

Die immer wieder von Politikern und Medizinern zitierten Folgekosten von Fehlernährung – 70 Milliarden Euro im Jahr – entsprechen etwa 30 Prozent der Gesamtkosten im Gesundheitswesen. Eine Studie des Harvard-Forschers Graham Colditz aus dem Jahr 1992 hat jedoch gezeigt, dass, abhängig von der Art, in der die Analyse durchgeführt wird, nur 2 bis 7 Prozent der gesamten Gesundheitskosten westlicher Gesellschaften der Adipositas zuzuschreiben sind – auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht sich bis heute auf diese Zahlen. Nach dieser Berechnung würde Übergewicht also maximal mit lediglich 16 Milliarden Euro die deutschen Krankenkassen belasten.

Um die realistischen Kosten einer Krankheit zu berechnen, ermitteln Gesundheitsökonomen die Geldmenge, die vermeidbar wäre, wenn man etwa Übergewicht erfolgreich bekämpfen würde. Dazu braucht es Interventionsstudien, und diese fehlen bislang. Übergewicht ist schlichtweg derzeit praktisch nicht therapierbar. Auch Präventionsmaßnahmen, wie Ernährungserziehung in der Schule oder andere Gesundheitskampagnen, schlagen meist fehl.

Darum wurde bislang nur das theoretisch mögliche Einsparpotenzial berechnet. Dafür addiert man das erhöhte Risiko für Diabetes mit Bluthochdruck und mit Schlaganfällen. „Dies führt jedoch zu falschen Zahlen, weil die genannten Risikofaktoren teilweise eigenständige Krankheiten sind und darum nicht einfach zusammengerechnet werden können“, so Helmert.

70 Milliarden Euro könnten theoretisch in Deutschland jährlich eingespart werden, wenn eine wirksame Therapie für Adipositas zur Hand wäre und wenn sich die Risikofaktoren nicht gegenseitig bedingen würden.

Dazu kommen noch weitere Schwierigkeiten. Etwa: Rechnet man zu den ernährungsbedingten auch die durch Alkoholkonsum entstehenden Kosten? Und welche Folgekrankheiten muss man einbeziehen? Muss man etwa auch Gicht, Karies oder Osteoporose berücksichtigen?

Kritisiert wird zudem, dass Übergewicht auch heute noch mit dem BMI gemessen wird, einem Wert, der eigentlich untauglich ist, um das Krankheitsrisiko eines Menschen zu bestimmen. „Und“, so meint Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der Fachhochschule Fulda, „unklar ist, ob die Adipösen, wenn sie nicht adipös wären, nicht andere Kosten durch andere Erkrankungen, Süchte oder Sportunfälle verursachen würden.“

Eine niederländische Studie kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass Raucher im Vergleich zu nichtrauchenden Normalgewichtigen und Fettsüchtigen am frühesten– und zwar im Schnitt mit 77,5 Jahren sterben und eine Gesellschaft darum am wenigsten kosten. Auch stark Übergewichtige sind häufiger krank, nehmen häufiger die Hilfe des Hausarztes in Anspruch, müssen häufiger und länger ins Krankenhaus und fehlen darum öfter bei der Arbeit – bis zum Alter von etwa 56 Jahren sind sie die teuerste Gruppe. Sie sterben aber auch früher als Gesundheitsbewusste, was die Renten- und Pflegekassen entlastet. Insgesamt gesehen sind darum die Gesunden die, die am meisten Kosten verursachen, weil sie im Alter länger gepflegt werden müssen – ihre Lebenserwartung liegt bei 84,4 Jahren. Die Autoren räumen ein, dass funktionierende Präventionsmaßnahmen gegen Übergewicht eine Volkswirtschaft zwar entlasten könnten, Pflegekosten im Alter jedoch viel stärker zu Buche schlagen.

Warum dann das gebetsmühlenartige Wiederholen einer mehr als fragwürdigen ökonomischen Belastung für die Gesellschaft? Dies kann nicht medizinisch begründet werden. Der Bremer Soziologe meint, dass die kursierenden Zahlen der Panikmache dienten. Schließlich profitieren Teile der Wirtschaft, Politiker, Wissenschaftler und Medien vom Übergewicht als „gravierendstem Gesundheitsproblem“ der westlichen Gesellschaften.

Also alles halb so schlimm? Nein, Mediziner sind weiterhin gefordert, Therapien und Präventionsmaßnahmen gegen dicke Bäuche und breite Hüften zu erarbeiten. Schließlich haben sie nicht eine ökonomische Mission zu erfüllen, sondern vor allem eine humane. Und dass übergewichtige Menschen im Zeitalter des Schlankheitswahns unter ihren Pfunden leiden, vor allem psychisch, ist nachgewiesen. Sie gelten als unattraktiv, dumm und schmutzig. Mit der Folge, dass sie auch Probleme bei der Job- und Wohnungssuche haben.