Patagonisches Märchen

Bis in die Fantasie reicht der Arm der Generäle: Marcelo Figueras erzählt von Argentinien

Teo ist zu groß für diese Welt, also wäre er am liebsten unsichtbar. Dann trifft er im Süden Argentiniens allerdings auf eine schöne Frau, verliebt sich unsterblich in sie und genießt seine körperliche Anwesenheit auf dieser Welt. Sie heißt Patricia und nennt sich Finnegan. Mit Joyce verwandt ist sie nicht, dafür hat sie wie Teo diese Neigung, gelegentlich nicht in Erscheinung treten zu wollen und beim geringsten Anzeichen von Gefahr die Zelte abzubrechen. Ihrer kleinen Tochter Miranda gefällt das gar nicht. Im Moment allerdings geht es ihr ganz gut. Sie lebt schon eine ganze Weile in Santa Brígida und zeigt immer mal wieder, welche übernatürlichen Kräfte ihr zur Verfügung stehen. Miranda hört Sphärenmusik, kann mit ihrer heilenden Hand Menschen glücklich machen und ist auch ansonsten eine engelhafte Lichtgestalt in der patagonischen Kleinstadt am Fuß der Anden, deren schrullige Einwohner allesamt eine Tendenz haben, nicht in Erscheinung treten zu wollen.

Zwei Liebende zum Beispiel stürzen in eine Schlucht, und ihre Leichen werden erst Jahre später gefunden. Ein ganzer Schulbus wird von einer Schneewehe verschluckt und nur dank Mirandas fantastischer Fähigkeiten wiedergefunden, während Pat Finnegan, die in Wirklichkeit Picón heißt, im letzten Drittel des Romans in der Psychiatrie und ihrer ganz eigenen Märchenwelt verschwindet. Teo allerdings befreit sie, auf dass sie in Frieden sterben kann. Einen wie ihn hätte man gerne an seiner Seite, obwohl Riesen wie er, die zu allem Überfluss auch noch von einem Latein sprechenden Wolf auf einen Baum getrieben werden, nur bei Autoren wie Marcelo Figueras vorkommen. Der landete mit „Kamtschatka“ einen Bestseller, dessen Verfilmung 2003 für den Oscar zum besten ausländischen Film nominiert wurde. Damals ging es Figueras um das Argentinien im Jahr 1976 und die Flucht einer Kleinfamilie, die von den Häschern der damaligen Militärdiktatur verfolgt wird. Figueras erzählte seine Geschichte aus der Sicht des älteren Sohnes. Dessen Fantasiewelt war allerdings bei weitem nicht so märchenhaft ausgestattet, wie er das jetzt in „Das Lied von Leben und Tod“ will.

Mit seinem neuen Roman begibt Figueras sich in die unwirklich anmutende Zwischenzeit kurz nach der Militärdiktatur. Nach 1983 sah es kurz so aus, als würden die verantwortlichen Generäle zur Verantwortung gezogen. Das Land lebte allerdings weiter in Schrecken und Angst, nicht zuletzt deshalb, weil die Mörder und Folterer von gestern die Spuren ihrer Gräueltaten verwischen wollten. Damals wie heute ging es um etwa 30.000 verschwundene Regimegegner und deren Kinder, die von den Mördern ihrer Eltern verschleppt und in regimetreue Familien gesteckt wurden. Wie viele dieser desaparecidos weiterhin ohne Kenntnis ihrer wahren Identität leben, weiß man nicht. Eine Ahnung davon, wie schwer es ist, seine wahre Identität zu ermitteln, wenn so gut wie alle Spuren verwischt worden sind, bekommt man in Elsa Osorios Roman „Mein Name ist Luz“. Da ist die Titelheldin die Tochter einer ermordeten linken Regimegegenerin. Sie wuchs in der kinderlosen Familie einer Generalstochter auf und versucht im Alter von etwa zwanzig Jahren ihre Herkunft zu rekonstruieren.

Figueras erzählt eine ähnliche Geschichte, zäumt sie aber anders auf. Dass Patricia Finnegan ihre Tochter vor dem langen Arm der argentinischen Generäle schützen will, hat man schnell kapiert. Warum das so ist, wird erst gegen Ende klar. Pat und ihre Tochter müssen immer wieder verschwinden, weil sie kurz nach der Geburt von Miranda nicht wirklich verschwanden. Der Grund: Pat war das Opfer eines Offiziers, dem „Todesengel“, dessen Vorbild einer der grausamsten Schergen des Militärregimes war – Alfredo Astiz, der von 1976 bis 1983 nicht nur die oppositionellen Gruppen Argentiniens infiltrierte, sondern auch in Europa unterwegs war. Figueras literarischer „Todesengel“ vergewaltigte Pat, zum einen weil sie es ihm angetan hatte, zum anderen weil er ein Kind für seine kinderlose Ehe zeugen wollte.

Solche Fälle gab es tatsächlich und unter anderem mitten in Buenos Aires, während rund um die Folterstätten „normal“ gelebt wurde. Irreale Züge erhält Figueras Geschichte dadurch, dass Pat auf dem Weg zur Entbindungsklinik eine Notgeburt erlitten haben und es ihr dann gelungen sein soll, mit dem Säugling zu entkommen. Seither sind Pat und Miranda auf der Flucht und geben den schillernden Kern eines Romans ab, in dessen Hintergrund Figueras Zeitgeschichte positioniert, der aber auch von Märchenmotiven überwuchert wird. Hinzu kommt, dass er zunächst zu Exkursen neigt und die Biografien der Einwohner Santa Brígidas derart ausgiebig Revue passieren lässt, dass sie wie kleine Erzählungen wirken. Erst in der zweiten Hälfte des Romans dringt Marcelo Figueras zum harten Kern seiner Geschichte vor und macht deutlich, dass er ein schnörkelloser Erzähler sein kann.

JÜRGEN BERGER

Marcelo Figueras: „Das Lied von Leben und Tod“. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Nagel & Kimche, Zürich 2008, 520 Seiten, 21,50 Euro