Der Konsenspolitiker aus Königsberg

Hinrich Lehmann-Grube hat den Konsens zum Prinzip erhoben. Jetzt schlichtet er zwischen den Tarifparteien

Es ist keine falsche Bescheidenheit. Der Mann sieht sich selbst als Funktionsträger. Als Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube 1998 ein erfolgreich saniertes Leipzig an seinen Amtsnachfolger übergab, sagte er: „Ich habe das nicht geschaffen.“ Die Leipziger selbst hätten das „Vertrauen in ihre eigene Kraft“ entwickelt, das in den Nachwendejahren gebraucht wurde.

Dabei hätte sich der 1932 in Königsberg Geborene auch als Zupacker in die kollektive Erinnerung der Ossis einschreiben können. Der eher dröge Lehmann-Grube folgte 1990 nach einer langen kommunalpolitischen Karriere in der alten BRD, wo er als gelernter Jurist unter anderem für den Deutschen Städtetag und in der Stadtverwaltung Kölns arbeitete, dem Ruf der ostdeutschen Genossen nach Leipzig. Für den letzten DDR-Kommunalwahlkampf ließ er sich von seinem damaligen Amt als Hannoveraner Oberstadtdirektor beurlauben und nahm die DDR-Staatsbürgerschaft an. Der Sozialdemokrat gab sich in den Wochen vor dem Urnengang hemdsärmelig und bürgernah. „Egal, wem Sie ihre Stimme geben – gehen Sie zur Wahl“, lautete seine Botschaft.

Das ergebnisorientierte ostdeutsche Politikverständnis und die immensen wirtschaftlichen Probleme Leipzigs verhalfen Lehmann-Grubes Politikstil zum Erfolg. Als „Leipziger Modell“ fand die parteiübergreifende Zusammenarbeit im Stadtparlament ihren Platz in der ostdeutschen Nachwendegeschichte. Leipzig bekam eine effiziente Verwaltung, die neue Messe, die meisten Bankfilialen nach Frankfurt am Main.

Als er 1997 ankündigte, aufhören zu wollen, zeigte sich die Kehrseite dieser Politik. Die Leipziger hatten das Gefühl, die Nachfolgerwahl zwischen dem SPD- und CDU-Kandidaten sei ein Kampf „Lehmanns gegen Grube“. Beide 1998 zur Wahl stehende Kandidaten hatte der scheidende Oberbürgermeister aufgebaut. Vielleicht ahnte Lehmann-Grube, dass auf Konsensdemokraten seines Formats weitere Aufgaben warteten. Er könne „womöglich unseren Mitmenschen noch nützlich sein“, sagte er nach seinem Abgang.

Er konnte. Schon zwei Jahre später sollte er gemeinsam mit dem Bremer Exbürgermeister Hans Koschnik seinen ersten Tarifstreit im öffentlichen Dienst schlichten. Der Experte für kommunale Finanzfragen vertrat 2000 die Arbeitgeberseite. Doch der Verwaltungsprofi scheiterte. Die Gewerkschaften lehnten das Arbeitgeberangebot auf Basis des von ihm und Koschnik erarbeiteten Schlichterspruchs rundweg ab.

Kurz vor Weihnachten 2002 hat die Arbeitgeberseite Lehmann-Grube nun erneut zum Schlichter bestellt. In der jetzigen Tarifrunde sieht sich der Erfinder des „Leipziger Modells“ mit einem Tarifkonflikt konfrontiert, in dem die gegensätzlichen Positionen kaum überbrückbar scheinen. Die Gewerkschaften sehen das Angebot der Arbeitgeber als „Provokation“. Diese stellen die Flächentarifverträge in Frage. Der scheinbar so geregelte bundesdeutsche Tarifkampf droht aus den Fugen zu geraten.

Unter Hinrich Lehmann-Grube wurde in den 90er-Jahren das Wort „Boomtown“ für Leipzig erfunden. Es stand für Einigkeit beim Aufbau. Im jetzigen Tarifkonflikt redet niemand über ein gemeinsames Ziel. Der Konsenspolitiker wird es schwer haben.

MATTHIAS BRAUN