Der flexible Plattenbau

Wilfried Stallknecht war als DDR-Architekt sowohl in der Innengestaltung als auch im Hochbau tätig. Mittels veränderbaren Zwischen- und Schranktrennwänden entwickelte er variable Wohnelemente

Interview MICHAEL KASISKE

taz: Sie sind einer der seltenen DDR-Architekten, die in den Bereichen Interieur, Hochbau und Städtebau gleichermaßen erfolgreich tätig waren. Wie kam es zu dieser Vielfalt?

Wilfried Stallknecht: Das eine baut auf dem anderen auf. Möbel und Plattenbauten lassen sich auf die gleiche Denkweise zurückführen: Aus vorgefertigten flächigen Elementen werden räumliche Gebilde zusammengesetzt, die dem Wohnen dienen – das eine als Objekt im Raum, das andere als Gehäuse. Auch Wohnungsbau und Städtebau können nur gemeinsam sinnvoll betrachtet und entwickelt werden. Im Übrigen folgt der Weg vom Innenraum zur großräumigen Planung meiner beruflichen Entwicklung vom Tischler zum Architekten.

Was waren am Anfang Ihre Aufgaben im Bauwesen?

Zunächst entwickelte ich als Fachmann für Innenraumgestaltung auf der Suche nach neuen, effektiveren Wegen für den Wohnungsbau gemeinsam mit meinen Kollegen Achim Felz und Herbert Kuschy den „Versuchsbau P 2 Fennpfuhl“ in Berlin-Lichtenberg, der inzwischen unter Denkmalschutz steht.

Welche Bedeutung hat dieser erste Plattenbautyp für die DDR-Baugeschichte?

Der Versuchsbau, ausgezeichnet mit dem ersten Preis im Wohnungsbauwettbewerb 1963, wurde zum Prototyp für den Massenwohnungsbau in der DDR. Mit einer Stückzahl von circa 365.000 Wohnungen ist er einer der meist gebauten Typen in Europa.

Haben Sie danach noch weitere Plattenbauten entworfen?

Ja. Es folgten drei weitere P-2-Versuchsbauten sowie Entwürfe für andere Bauweisen, wie etwa das Tunnelschalverfahren oder auch das Gleitkippverfahren, das ich mir patentieren ließ. Danach schufen wir mit der Studie „Plattenbau 69“ die Grundlagen für die Wohnungsbauserie 70, nach deren Muster mehr als eine Million Wohnungen gebaut wurden.

Und wie kamen Sie dann zum Städtebau?

Es begann mit dem städtebaulichen Wettbewerb für den Leninplatz, heute Platz der Vereinten Nationen, in Berlin-Friedrichshain. Im Kollektiv von Hermann Henselmann hatte ich Gelegenheit, unseren Typ P 2 der örtlichen Situation entsprechend für geschwungene Baukörper weiterzuentwickeln und ein in der Höhe gestaffeltes Hochhaus zu entwerfen. Es folgten eigenverantwortliche Wettbewerbsbeiträge für Halle-Neustadt und Bernau, für das Musterdorf Ferdinandshof und das Wohngebiet Ernst-Thälmann-Park im Prenzlauer Berg.

Was veranlasste Sie, sich mit der Flexibilität von Wohnungsgrundrissen auseinander zu setzen?

Zunächst waren es ganz pragmatische Gründe. Beim Bauen mit dem Tunnelschalverfahren ist es nämlich nicht möglich, großflächige und nicht tragende Innenwände mit dem Kran zu montieren. Das führte zum nachträglichen Einbau kleinerer und leichterer Wandelemente. Auf der Grundlage eines Rasters wurde ein Sortiment für veränderbare Zwischen- und Schranktrennwände entwickelt, in dem wir die Möglichkeiten des „variablen Wohnens“ erkannten.

Wie kam das Konzept frei einteilbarer Wohnungen an?

Zunächst wurde eine Musterwohnung auf der Messe in Leipzig aufgebaut, aber nicht öffentlich vorgestellt. Die führenden Leute aus der Partei waren so begeistert, dass wir den Auftrag bekamen, sofort große Experimentalvorhaben zu starten. Da noch kein tauglicher Plattenbau in Berlin vorhanden war, wurde auf einen Skelettmontagebau im Zentrum zurückgegriffen.

Sie meinen das Hochhaus in der Mollstraße, welches kürzlich abgerissen wurde?

Ja. Hier wurde erstmals mit den Mietern die individuelle Gliederung und Gestaltung der Wohnungen praktiziert.

Ließ sich ein solches Experiment angesichts der großen Wohnungsbauvorhaben der DDR politisch vertreten?

Politisch durchaus, aber nicht wirtschaftlich. Die Wohnungen waren sehr begehrt, aber es folgte ein Publikationsverbot. Es wurde befürchtet, mit diesem Angebot Wünsche bei der Bevölkerung zu wecken, die nicht im großen Umfang hätten befriedigt werden können.

Haben Sie das Konzept dennoch weiterverfolgt?

Die Idee wurde anhand mehrerer experimenteller Vorhaben in Dresden, Chemnitz, Rostock und Magdeburg fortgeführt und mit meiner Habilitation wissenschaftlich untermauert.

Welche anderen Aspekte des „komplexen Wohnungsbaus“ haben Sie beschäftigt?

Auf der Suche nach Möglichkeiten, den Plattenbau auch für innerstädtische Gebiete tauglich zu machen, wurde mir die Aufgabe zur Umgestaltung des Stadtkerns von Bernau übertragen, die ich als integrierte Planung von Wohnungs- und Städtebau auch zum Thema meiner Dissertation gemacht habe.

Welches Verhältnis hatten Sie zur Politik?

Ich habe mich nicht um die große Politik gekümmert. Unsere Arbeit erforderte viel Kreativität. Wir haben uns schlicht und einfach selbst Aufgaben gestellt, von denen die Leute noch keine Ahnung hatten. Ich vergleiche meine damalige Situation gern mit der des Porzellanmachers Böttcher: Der konnte auf der Festung Königstein tun und lassen, was er wollte, nur verlassen durfte er sie nicht. So ist es mir in der DDR auch gegangen: Ich habe berufliche Möglichkeiten gehabt, aber ich durfte nicht in den Westen reisen.

In jüngerer Zeit haben Sie ein Möbel namens Selio entwickelt. Was bedeutet der Name?

Das ist die Abkürzung für „Sessel-Liege-Ottomane“. Es ist ein wandlungsfähiges Sitz- und Liegemöbel, das im täglichen Gebrauch den Bedürfnissen der Nutzer angepasst und ständig verändert werden kann. Es ist in seiner Grundidee ein Relikt aus der kreativen Phase des „variablen Wohnens“ der 1960er-Jahre.

Wie entstand diese Form?

Gemäß dem Grundsatz von Ludwig Mies van der Rohe: Form follows function. Es geht darum, hohen Sitzkomfort mit moderner, zeitloser Erscheinungsform zu verbinden. Das erste Muster von 1965 wurde in Holz gefertigt. Heute bevorzuge ich Rundstahl, ergänzt durch Stahlrohr für die Steckverbindungen.