„Hugo Chávez’ Politik führt uns ins Desaster“

Rafael Simón Jiménez, Vizepräsident des venezolanischen Parlaments, über die guten Absichten, aber mangelnden Visionen des Präsidenten

taz: Herr Jiménez, als Präsident Hugo Chávez im Jahr 1999 eine verfassungsgebende Versammlung wählen ließ, entfiel auf seine Kandidaten eine übergroße Mehrheit. Auch bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 schaffte er es locker auf 56 Prozent. Jetzt ist das Land gespalten, was ist geschehen?

Rafael Simón Jiménez: Chávez ist ein populärer Führer, er hat Charisma und kann reden. Aber er hat permanent die Konfrontation mit seinen Gegnern gesucht. Er ist nicht einem Konflikt aus dem Weg gegangen, kein einziges Mal hat er versucht, Kompromisse einzugehen. Das hat die Fronten verhärtet und zu dieser Blockade geführt, die wir jetzt beobachten können.

Woher kommt es, dass Chávez so wenig taktvoll vorgeht?

Chávez ist ein Militär, er wurde an der Militärakademie ausgebildet. Das war, neben der Schule, die einzige Ausbildung, die er genossen hat. Er versucht die Welt mit den Instrumenten eines Militärstrategen zu interpretieren. Alles ist für ihn ein Krieg, die Politik ein Schlachtfeld. Er kennt in der politischen Auseinandersetzung nur Sieg oder Niederlage. Dazwischen gibt es nichts.

Warum stößt Chávez’ Projekt auf solch heftige Ablehnung?

Chávez hat eine zentrale Idee: die der Revolution. Sie geht zurück auf den Befreierhelden Simón Bolívar. Doch diese Idee wird von nur wenigen gesellschaftlichen Segmenten mitgetragen, sie hat sogar mächtige Teile der Gesellschaft eher ausgegrenzt, was zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Regierung und den De-facto-Mächten – Medien, Unternehmer und Gewerkschaften – geführt hat. Chávez’ Fehler war, dass er nicht einsehen wollte, dass der Staat alle gesellschaftlichen Gruppen einschließen muss, wenn er das Land verändern und als Präsident überleben will.

Wie weit ist Chávez mit seinem Versprechen gekommen, einen politischen Neuanfang zu wagen?

Es war nötig, die traditionellen Parteien abzulösen und die De-facto-Mächte in ihre Grenzen zu weisen. Es gab hier in 40 Jahren keinen Wirtschaftsminister, der nicht vom Unternehmerverband Fedecamaras gestellt wurde. Der Staat war von den herrschenden Gruppen quasi konfisziert worden. Chávez ist das logische Ergebnis dieses Prozesses. Und er hatte hatte die Chance, das Land zu verändern. Aber er ist auf halbem Weg stehen geblieben. Er hat zwar die Vorherrschaft der alten Eliten gebrochen, aber er hat nichts Neues aufgebaut. Die Unternehmerverbände haben heute noch nicht mal jemanden, den sie im Wirtschaftsministerium anrufen können.

Chávez scheint viele Dinge im Land nicht wahrzunehmen, so zum Beispiel das Ausmaß und die Folgen des Streiks. Ist er verrückt geworden?

Nein, es ist kein psychologisches Problem. Es fehlt ihm in Wirklichkeit eine politische Vision. Er hat keine schlechten Absichten, und wie viele Populisten glaubt er daran, was er macht. Aber seine Politik führt uns ins Desaster.

Wie kann die Krise in Venezuela gelöst werden?

Nur durch Neuwahlen. Chávez muss so schnell wie möglich Wahlen ausschreiben. Wir haben diesbezüglich im Parlament einen Gesetzentwurf eingebracht. Man muss aber auch sehen, dass das nicht von heute auf morgen geht. In der Demokratie gibt es keine schnellen Lösungen. INTERVIEW: INGO MALCHER