EZB-Chef in spe vor Gericht

Ab heute muss sich Jean-Claude Trichet vor den Richtern verantworten. Vorwurf: Der designierte Chef der Europäischen Zentralbank habe der damaligen Staatsbank Crédit Lyonnais Anfang der 90er- Jahre Bilanzmanipulationen durchgehen lassen

aus Paris DOROTHEA HAHN

Frankreichs oberster Bankier und Europas designierter künftiger Zentralbankchef Jean-Claude Trichet muss sich heute als Angeklagter vor einem Strafgericht in Paris einfinden: wegen „Beteiligung bei der Veröffentlichung betrügerischer Bilanzen“.

Anfang der 90er-Jahre, als Trichet im Pariser Finanzministerium über die Geschäfte der Staatsunternehmen wachte, soll er beide Augen zugedrückt haben, als die Staatsbank Crédit Lyonnais Ergebnisse veröffentlichte, die um mehrere Milliarden Francs geschönt waren. Das habe zu der Vertuschung von Milliardenverlusten beigetragen.

Untersuchungsrichter Philippe Courroye erhob im vergangenen Juli Anklage gegen Trichet und acht weitere Herren aus der Spitzenfinanz der Mitterrand-Jahre. Doch die neue rechte Regierung beeindruckte das nicht. Sie beurlaubte den 60-Jährigen nicht. Und auch Trichet selbst erklärte, er werde „selbstverständlich“ im Juli 2003 sein europäisches Amt antreten.

Trichet hat sämtlichen Mehrheiten in Paris seit den 70er-Jahren gedient. Unter dem rechtsliberalen Präsidenten Giscard d’Estaing war er im Elyseepalast, der Neogaullist Balladur holte ihn ins Finanzministerium. Die Zeitung Le Monde bezeichnete den Absolventen mehrerer Eliteschulen, der einst Mitglied der linken Partei PSU war, als „besten Beamten seiner Generation“.

Zu seiner europäischen Karriere hob Trichet unter Mitterrand ab. Er schrieb mit am Maastricht-Vertrag und wurde 1993 zum Gouverneur der Banque de France berufen, wo er den Weg für die Einheitswährung bereitete. Er setzte die von der EU verlangte politische Unabhängigkeit der Zentralbank durch und trat für die Kürzung der öffentlichen Ausgaben sowie für niedrige Lohnabschlüsse ein.

Als Jacques Chirac 1995 Wahlkampf machte und noch eine gewisse Euro-Skepsis zeigte, wies er den obersten Bankier in die Schranken: „Trichet ist nicht dazu da, der Regierung ihre Politik vorzuschreiben.“ Wenig später war Chirac Staatspräsident und gab Trichet ein zweites Mandat an der Spitze der Banque de France. Beim EU-Gipfel im Mai 1998 paukte er ihn für die Spitze der EZB durch. Er sollte den „Kandidaten der Deutschen“, den Niederländer Wim Duisenberg, nach der Hälfte der achtjährigen Amtszeit ablösen. Der geschlagene deutsche Kanzler Helmut Kohl sprach von einem „nicht sehr eleganten Kompromiss“. Aber Duisenberg versicherte, er werde vorzeitig zurücktreten: „aus Altersgründen“.

Der Prozess vor dem Strafgericht ist bis Mitte Februar terminiert. Schon jetzt schieben sich Angeklagte gegenseitig die Verantwortung für die Verluste und ihre Vertuschung beim Crédit Lyonnais zu. Exchefs der früheren Staatsbank, die inzwischen mit Steuergeldern saniert und im Jahr 1999 privatisiert wurde, wollen „Weisung aus den Ministerien“ erhalten, Mitarbeiter des Finanzministeriums hingegen nichts gewusst haben. Die Interna aus dem Crédit Lyonnais seien damals direkt an Premierminister Pierre Bérégovoy geflossen, sagen sie. Er selbst kann dazu nicht befragt werden. Er hat sich das Leben genommen.

Der Streit auf der Anklagebank könnte zu einer Prozessverschiebung führen. Für Trichet wäre das fatal. Er braucht einen schnellen, überzeugenden Freispruch. Alles andere wäre ein Hindernis auf dem Weg zum Karriereabschluss in Frankfurt.