„Immunisierung der Polizei“

Die merkwürdigen Ermittlungen im Todesfall Julio V.: Kein Tatverlauf und keine Vernehmung. Kriminologe: Polizei versucht sich der rechtlichen Prüfung zu entziehen

Für den normalen Außenstehenden ist der Vorgang schier unfassbar. Und auch unter KriminalistInnen außerhalb Hamburgs löst der Fall nur noch Kopfschütteln aus. Selbst für den Hamburger Kriminologen Prof. Dr. Fritz Sack ist es ein „Hamburger Spezifikum“: Gegen den 42-jährigen Polizeioberkommissar, der Heiligabend in Uhlenhorst den flüchtigen Einbrecher Julio V. (25) durch einen Schuss in den Rücken getötet hat, ist bislang weder ein „förmliches Ermittlungsverfahren“ eingeleitet, noch ist er überhaupt durch die zunächst ermittelnde Mordkommission der Polizei vernommen worden. „Die Ermittlungen dauern an“, sagt Staatsanwaltschaftssprecher Rüdger Bagger. „Wir werden über das weitere Vorgehen in den nächsten Tagen entscheiden.“

Bagger kann die Kritik an der Vorgehensweise der Anklagebehörde – nämlich nur ein so genanntes „Vorermittlungsverfahren“ einzuleiten, das es in der Strafprozessordnung gar nicht gibt, und den Polizisten nicht als „Beschuldigten“ zu führen – gar nicht verstehen: „Wir haben Gutachten in Auftrag gegeben, so über die Schmauchspuren, um herauszufinden, was eigentlich passiert ist.“

Das könnte zwar der Polizist schildern, doch der ist – wie berichtet – nach einem kurzen Plausch mit Innensenator Ronald Schill seit der Tat als „vernehmungsunfähig“ krankgeschrieben. Inzwischen ist er aber soweit gesundet, dass er einen Anwalt eingeschaltet hat. „Niemand kann gezwungen werden, vor der Polizei auszusagen“, so Polizeisprecherin Ulrike Sweden.

Zu einer Vernehmung wird es wohl auch kaum mehr kommen, da sich der Anwalt inzwischen bei der Staatsanwaltschaft „legitimiert“ hat. „Wir gehen davon aus, wenn er sich anwaltlich vertreten lässt, dass er sich nur über seinen Anwalt einlassen wird“, sagt Bagger.

Für Prof. Sack, Bundesvorstandsmitglied der Humanistischen Union und Ex-Mitglied der Hamburger Polizeikommission, ist dies ein unhaltbares Vorgehen. „Darin schlägt sich die neue polizeipolitische Strategie in Hamburg nieder, und die Staatsanwaltschaft macht mit“, kritisiert der Kriminologe. „Ich finde das Vorgehen skandalös.“

Nomalerweise hätte die Polizei bei einem Tötungsdelikt, bei dem es Opfer, Täter und somit einen „Anfangsverdacht“ gibt, „ohne Ansehen der Person“ ermitteln müssen. „Das ist die Immunisierung der Polizei gegen die Kontrolle, um die eigene Vorgehensweise nicht auf den rechtlichen Prüfstein zu stellen“, wettert Sack. Er betont, dass es so etwas zur Zeit der Polizeikommission nicht hätte geben können. „Das hätten sie sich nicht getraut.“

Die Polizeikommission war als nahezu erste Maßnahme des Hamburger Rechtssenats im Dezember 2001 abgeschafft worden. KAI VON APPEN