Wer jung ist, kannte nur Krieg

Die Kooperation von staatlicher und tamilischer Verwaltung für das Bildungswesen läuft gut„Wir haben nichts dagegen, wenn die Regierung uns in humanitären Fragen hilft“, sagt ein Tamile

aus Sinnadampan undPuthukkudiyiruppu KLEMENS LUDWIG

Für den zwölfjährigen Vijendram Chayagam beginnt der Tag morgens um viertel nach fünf. Schnell hat sich der Junge gewaschen, angekleidet und das Feuer gemacht, auf dem seine Mutter später für den Tag kochen wird. Dann macht er sich auf den Weg. Es ist keine Arbeitsstelle, die er ansteuert, wie viele andere Gleichaltrige in Südasien. Auf Vijendram wartet die Schule. Damit gehört er zu den Privilegierten. Mehr als eine Stunde ist er zu Fuß unterwegs, über Felder, ausgetretene Urwaldpfade, vorbei an Hütten und kleinen Dörfern. Sein tägliches Ziel heißt Sinnadampan, einer Ansammlung von ein paar Hütten, umgeben vom Urwald. Da Sinnadampan an einer Schotterpiste Richtung Ostküste liegt, ist es der Anlaufpunkt für mehrere Dörfer, und es besitzt eine Schule. Es bedarf nicht viel, um in einer so abgelegenen Gegend im Norden von Sri Lanka zu einem Verkehrsknotenpunkt zu werden. Um sieben Uhr, noch bevor die Hitze des Tages unerträglich wird, beginnt der Unterricht. „Ich bin noch nie zu spät gekommen, obwohl ich im Gegensatz zu anderen Jungen in meiner Klasse kein Fahrrad habe“, erzählt er stolz. In der Schule finden sich Kinder zwischen sechs und vierzehn Jahren ein. Ihre Motivation ist groß. „Wir benötigen eine gute Ausbildung, wenn wir eine Zukunft haben wollen“, meint Vijendram. Das klingt etwas altklug, aber nicht wie nachgesprochen.

Die Schulgebäude sind neu. Das Haupthaus ist aus Stein errichtet, es spendet Schatten und Kühle; die anderen sind aus Holz und ohne Wände gebaut. So kann der Wind hindurchblasen und für etwas Erfrischung sorgen, wenn das Thermometer draußen auf 40 Grad im Schatten steigt. Die Materialien stellt der Staat, doch die Unterrichtssprache ist Tamil, denn hier stellen Tamilen die Mehrheit. Sinnadampan und Umgebung werden seit langem von der LTTE beherrscht, den Befreiungstigern von Tamil Eelam. Muttersprachlicher Unterricht ist eine ihrer wichtigen Forderungen, die von der Regierung bereits vor dem offiziellen Friedensschluss erfüllt wurden. Offenkundig klappt die Kooperation von staatlicher und LTTE-Verwaltung für das Bildungswesen. Wenn der Norden nach zwanzig Jahren Krieg wieder Anschluss an den allgemeinen Standard gewinnen will, geht das nicht zuletzt über die Bildung. Sie hat in Sri Lanka schon immer einen hohen Stellenwert gehabt. Die Analphabetenrate beträgt nur 10 Prozent, deutlich weniger als in anderen südasiatischen Staaten wie Indien oder Pakistan, wo sie 5- bis 6-mal höher liegt und erheblich mehr Kinder arbeiten müssen.

Im LTTE-Gebiet herrscht Aufbruchstimmung. Wie ein Symbol für den neuen Geist erscheint Puthukkudiyiruppu, nicht weit von Sinnadampan gelegen. Der schier unaussprechliche Name der Kleinstadt war bis vor kurzen selbst in Sri Lanka kaum jemandem geläufig. Heute wird er zumindest unter den politisch Interessierten mit Zurückhaltung und Respekt ausgesprochen. In Puthukkudiyiruppu hat der zivile Arm der LTTE sein Hauptquartier aufgeschlagen. In den Straßen herrscht geschäftiges Treiben. Mopeds dominieren den Verkehr und nehmen wenig Rücksicht auf Fußgänger; aus Lautsprechern dröhnt Musik, in den Geschäften entlang der Hauptstraßen und auf dem Markt wird gefeilscht und gekauft. Schienenstränge der längst stillgelegten Eisenbahnlinie Colombo–Jaffna trennen Grundstücke und kleine Gärten ab. Womöglich werden sie bald wieder gebraucht.

Puthukkudiyiruppu ist einer der wenigen Orte, der in dem Krieg zwischen der singhalesischen Armee und den Tamilen nicht zerstört worden ist. Ansonsten ist eine Reise durch das Gebiet der Tamil Tigers ernüchternd, bisweilen schockierend. Wo früher einmal Dörfer waren, steht häufig kein Stein mehr auf dem anderen, ehemals regionale Zentren sind zu Geisterstädten geworden. Die Hauptstraßen säumen abgeknickte Strommasten. In ausgebombten Häusern wachsen Sträucher. Mauerreste spenden Schatten vor der unerbittlichen Sonne, so dass es üppiger grünt als auf den Feldern, die ausgedörrt in der Sonne liegen, weil sich niemand um die Bewässerung kümmert. Selbst in Friedenszeiten ist es für die Tamilen nicht einfach, der Natur Leben abzuringen. Doch an Frieden können sich die Jüngeren gar nicht erinnern.

Der 65-jährige Sanu Sinnapa ist der stellvertretende Verwaltungschef und einer der Ranghöchsten in der LTTE-Hierarchie, der sich der Öffentlichkeit stellt. Aus seiner Unzufriedenheit mit Colombo macht er keinen Hehl: „Die Regierung tut viel zu wenig für uns. Ihre Soldaten haben alles zerstört und jetzt hat sie kein Geld, um Straßen und Wasserreservois zu reparieren oder die medizinische Versorgung sicherzustellen.“ Aber wie verträgt sich die Forderung an die Regierung mit dem Anspruch auf Selbstständigkeit? „Wir haben nichts dagegen, wenn die Regierung ihrer Verantwortung gerecht wird und uns im humanitären und sozialen Bereich unterstützt; natürlich nach Absprache mit uns.“ Der Pragmatismus der Tiger ist so bemerkenswert wie notwendig, denn allein verfügen sie nicht über die Mittel zum Wiederaufbau.

Puthukkudiyiruppu ist noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Etwas abseits vom Zentrum befindet sich der Amtssitz des Regierungsagenten, der die Zentrale in Colombo vertritt. Niemand in der Tiger-Zentrale nimmt Anstoß an seiner Präsenz – er ist sogar unverzichtbar für die Versorgung.

Sinnakuddy Sundaram ist selbst Tamile. Er steht an der Spitze von etwa 500 staatlichen Beamten, die in den von den Tigern kontrollierten Gebieten Dienst tun; und er verfügt – mitten im Feindesland – zweifellos über mehr Macht als Ramu Sinnapa: „Ich repräsentiere die Regierung. Alles, was die Menschen von der Regierung erwarten, wird durch mich abgewickelt. Das umfasst das Gesundheitswesen mit den Krankenhäusern, die Schulen, die Wassertanks, die Nahrungsmittelproduktion und die Viehhaltung. Zement, Öl, Benzin, Zucker und Weizen, alles muss vom Süden eingeführt werden. So unterstützen wir die Menschen in ihren alltäglichen Anliegen.“ Diese Einschätzung der Lage klingt ganz anders als die des stellvertretenden Verwaltungschefs der LTTE. Ein Land voller Widersprüche.

Hunderte von Menschen sind in dem kleinen Flecken Palamoddai zusammengekommen, wo die Deutsche Welthungerhilfe gemeinsam mit einem einheimischen Partner Lebensmittel und Haushaltsgeräte verteilt. Ohne die ausländischen Hilfswerke sind der Wiederaufbau und die Versorgung der Menschen im Gebiet der Befreiungstiger undenkbar. Sie räumen Minen, errichten Unterkünfte für die Rückkehrer, reparieren Bewässerungssysteme, verteilen Saatgut und Lebensmittel. Auf hoffnungslos überladenen Fahrrädern transportieren die Menschen den Reis, den Zucker, das Salz, die Pfannen und Töpfe nach Hause.

Das geschäftige Treiben von Palamoddai kann jedoch nicht über die Herausforderungen hinwegtäuschen, die dem Land noch bevorstehen. Allein in dem Gebiet der Tiger leben noch immer knapp dreihunderttausend Vertriebene, die versorgt werden müssen. An der Grenze auf Regierungsseite warten weitere hunderttausend darauf, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Ihre Integration ist die Bewährungsprobe für den Friedensfall. Sie steht noch bevor.

Der Dorfvorsteher von Palamoddai, Thambiah Mohanathas, findet nur lobende Worte für die Politiker in Colombo: „Solange Krieg geherrscht hat, konnte die Regierung nichts tun. Jetzt hat sich die Situation grundlegend verändert. Jede Woche erscheinen die Beamten, um ihren Pflichten nachzukommen. Sie treffen sich mit den Bauern und fragen, was nötig ist. Ich habe den Eindruck, sie nehmen ihre Verantwortung ernst. Die Vertriebenen wollen einfach Frieden, wollen in ihre Dörfer zurückkehren, die Felder wieder bestellen. Die meisten interessieren sich nicht für Politik. Ob sie in ihrem eigenen Staat leben oder eine Autonomie haben, das ist zweitrangig.“

Diese Haltung bleibt nicht unwidersprochen. Ein kleiner, schmächtiger, aber durchaus selbstbewusster Mann drängt sich nach vorn. Sein Hemd strahlt in einem Blütenweiß, das gar nicht zu der staubigen Umgebung passt. Die Umstehenden weichen zurück. Offenkundig ist Maheswarry Pillai eine besondere Respektsperson. Er stammt aus Jaffna und ist vor der Armee hierher geflohen. Im Gegensatz zum Dorfvorsteher betrachtet er sich als Anhänger der LTTE: „Ohne die Tiger wären wir der Regierung schutzlos ausgeliefert. Wir sind nicht glücklich über den Krieg, aber wir mussten kämpfen; anders hätten wir unsere Rechte nicht durchsetzen können.“ Maheswarry Pillai ist überzeugt, dass die Einigung nur aus einer Position der Stärke heraus erreicht werden konnte, auch wenn es ein unabhängiges Tamil Eelam nicht geben wird.